Manchmal sollte man zuhören, wenn die Alten von
früher berichten. In Prag war diese Woche so ein Moment. Da erzählte
Hans-Dietrich Gen-scher, wie das damals war, als 1989 Tausende
Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft festsaßen, als die Lage
immer aussichtsloser und die hygienischen Zustände immer
katastrophaler wurden. Und als sich plötzlich dieses kleine Fenster
auftat, eine Gesprächsbreitschaft auf der anderen Seite des Eisernen
Vorhangs. Da sei er, sagte Genscher, gegen den ausdrücklichen Rat
seiner Ärzte mit krankem Herzen und einer Kardiologin im Gepäck in
die Maschine gestiegen und „hingerast“, um auf der UN-Versammlung mit
DDR-Außenminister Oskar Fischer und dem sowjetischen Außenminister
Eduard Schewardnadse zu sprechen. Genscher verhandelte die Ausreise
der Flüchtlinge und zusammen mit Helmut Kohl später die deutsche
Einheit, er machte das Unmögliche möglich. Die heutige Politik
verfährt genau umgekehrt. Sie macht das Mögliche unmöglich. Selten
war das diplomatische Parkett so vernachlässigt und stumpf wie
derzeit. Das persönliche Vier-Augen-Gespräch, das
Alles-stehen-und-liegen-Lassen Genschers, wenn es die Situation
erfordert, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel fremd. Nach Moskau
brachten sie auch in der schärfsten Ukrainekrise keine zehn Pferde.
Man telefoniert und diktiert, so funktioniert die Kanzleramtspolitik.
Seit Jahren wird nicht regiert, sondern residiert, heraus aus der
bequemen Mittellage Europas, die Deutschland seit Auflösung des
Kalten Krieges in den Schoß gefallen ist. Krise, das war immer
anderswo. Die Flüchtlinge brandeten im Mittelmeer an. Die
NATO-Außengrenze hatten die Türkei und die baltischen Staaten geerbt.
Um Kriminalität sollten sich gefälligst die Außenposten der
Schengen-Länder kümmern. Und so prosperierte Deutschland allen
anderen davon, selbst in der schlimmsten Eurokrise – und spart auch
da nicht mit guten Ratschlägen an die Nachbarn, wie man es besser
machen kann. Das Anspruchsdenken gibt–s gratis dazu. Unter
Schwarz-Gelb musste es mindestens ein ständiger Sitz im
UN-Sicherheitsrat sein. Und Bundespräsident Joachim Gauck, dessen
diplomatisches Handwerkszeug sich auf hochsymbolische Absagen seiner
geplanten Russlandbesuche beschränkt, predigt allerorten die neue
deutsche Verantwortung in der Welt. Diese, forderte der Präsident,
müsse auch mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden. Die
Realität liegt in diesen Tagen schonungslos offen. Da müssen
Transall-Maschinen auf den Kanaren notlanden, statt Helfer ins
Ebola-Gebiet zu bringen. Da wird anderen Bundeswehr-Flugzeugen der
Eintritt in den irakischen Luftraum wegen Sicherheitsmängeln
verwehrt. Das Material der Bundeswehr – auf Ramschniveau
herabgestuft. Und in seinen eigenen Flüchtlingsheimen kann
Deutschland, das weltweit immer den feinsten Sensor für humanitäre
Katastrophen hat, nicht einmal die Mindeststandards von Menschenwürde
einhalten. Wäre es nicht menschlich so bitter, müsste man die Häme im
Ausland über die deutsche Unfähigkeit fast teilen. Eine Vorbild- und
Vorreiterrolle kann man nicht einfach vom Rathausbalkon verkünden.
Deutschlands Paradedisziplin im Ringen der Großen war in den
vergangenen Jahrzehnten immer die Diplomatie. Hingehen, hinsehen,
einmischen. Heute fehlt diese Politik mit Herz. Wie es geht? Genscher
kann davon erzählen.
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