Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Deutsche wechseln die Statussymbole Neues Streben nach Glück THOMAS SEIM

Vor der Börsenkrise 2008 warben die
bodenständigen Sparkassen etwas abgehoben mit dem Werbespot „Mein
Haus, mein Auto, mein Boot“. Zwei Karrieristen sollten so dem
deutschen Kunden als Vorbilder dienen. Jetzt scheinen die Aufsteiger
saniert zu sein. Nun denken sie offenbar an die Ruhe, die der
28-jährige Karl Marx als Freiheit des Kommunismus beschrieb: morgens
jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht betreiben – und nach dem
Essen kritisieren. Der Rückzug der Satten. Anders die Jungen, die
Neugierigen, die Aufsteiger. Sie können heute oft weder Haus noch
Boot noch Auto bezahlen. Sie sind nicht einmal sicher, ob sie morgen
noch den Job haben, den sie heute ausüben. Sie sind hungrig auf die
Zukunft, aber sie wissen nicht genau, wann sie beginnt. Vor allem
wissen sie nicht genau, ob es eine bessere sein wird. An diesem
Wochenende trat Tim Bendzko in Bad Oeynhausen auf. Er ist 28 wie Karl
Marx, als der das Zitierte niederschrieb. Bendzko singt heute: „Ich
muss nur noch kurz die Welt retten und 148 Mails checken.“ Ein Lied,
das davon handelt, wie eine Karriere im Stress ertrinkt und darunter
persönliche Beziehungen leiden, vielleicht zerbrechen. Ihm hörten in
Bad Oeynhausen 20-mal so viele Fans zu wie vor zwei Jahren. Sie
wollen eine gute und sichere Zukunft, aber keine wie die der
Karrieristen. Lässt sich daraus ein Trend zum heimeligen Biedermeier
ableiten? Eher nicht. Die Jungen suchen ihre Chance. Sie suchen nach
Einkommen, damit sie ein Auskommen haben. Sie wollen nicht leben, um
zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben. Kurz: Sie streben nach
Glück. Heute werben Sparkassen mit dem Slogan „Einfach sehen, wo man
sparen kann“. An die Stelle der Börsen-Karrieristen treten junge
Paare und Familien. Der Wallstreet-Kapitalismus ist „out“. Das ist
doch nicht die schlechteste Nachricht.

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