Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Eurovision Song Contest in Aserbaidschan Kein bisschen Frieden BERNHARD HÄNEL

Wenn am Samstag der Eurovision Song Contest über
die Mattscheibe flimmert, können einem beim Zuschauen gemischte
Gefühle beschleichen. In das Amusement über den Auftritt der
singenden Russen-Omas, die durchgeknallte Loreen aus Schweden und das
Abschneiden von Roman Lob mischen sich viele ungute Gefühle und
zornige Gedanken. Darf ein Spaßevent wie der europäische
Sangeswettstreit in einem Land stattfinden, in dem den Bürgern längst
das Lachen vergangen ist? Die European Broadcasting Union,
Veranstalter des Song Contests, gibt offen zu, dass Aserbaidschan die
Meinungsfreiheit unterdrückt, Menschenrechte missachtet und die
Veranstaltung für Propaganda nutzt. Doch die Regeln verlangten nun
einmal, dass der Sieger die nächste Veranstaltung ausrichtet. Zudem
würden die Menschen durch den Wettbewerb wenigstens auf Missstände
aufmerksam gemacht. Oder wäre eine Verlegung, gar ein Boykott die
bessere Antwort gewesen, weil sie der Präsidentenfamilie der Aliyevs
unmissverständlich signalisiert hätte, dass westliche Medien sich
nicht für Propagandaveranstaltungen hergeben? Alle bisherigen
Boykottaktionen , angefangen mit dem Fernbleiben der westlichen
Staaten von den Olympischen Spielen in Moskau bis zur aktuellen
Debatte über die Teilnahme an der Fusßball-EM in der Ukraine, haben
nicht nur nichts bewegt, haben aber einen schalen Beigeschmack
hinterlassen. Gleiches gilt allerdings für die Befürworter der
Teilnahme. Sie versprechen stets, die Anwesenheit einer breiten,
demokratisch gesinnten Öffentlichkeit werde in einem diktatorisch
geführten Land Wirkung entfalten und die oppositionellen Kräfte
stärken. Wo bitte soll das jemals geschehen sein? Etwa in Peking?
Lachhaft. Und dennoch, der Versuch des Aliyev-Clans und seiner
Oligarchen-Schranzen ein gutes Licht auf auf ihr öl- und gasreiches
Land zu werfen, dürfte gründlich missraten sein. Wer lesen wollte und
sehen, der konnte erfahren, wie es um die Menschen in Aserbaidschan
bestellt ist. So gesehen, ist die Propaganda-Show misslungen, bevor
das erste „Boom, boom, o mei, la la la, oh oh oh“ ins Wohnzimmer
waberte. Niemand konnte ernsthaft annehmen, dass der
Sänger-Wettstreit Reformen in Gang setzen könnte. Kein bisschen
Frieden mehr ist dadurch in die Welt gekommen. Durch die Show in
Aserbaidschan aber sollte eine alte, nie beantwortete Frage neu
gestellt werden: Wo genau verlaufen eigentlich die Grenzen Europas?
Reicht der Kontinent tatsächlich bis Baku und Wladiwostok? Oder sind
diese Dimensionen eher zufällig zustande gekommen mit dem Untergang
der Sowjetunion? Eine Antwort auf diese Frage führte uns urplötzlich
in eine verdrängte Diskussion über die Zukunft des europäischen
Projekts. Angesichts dieser Herausforderung freut man sich schon fast
wieder auf den Auftritt der 26 Finalisten und die Bekanntgabe der
Punktewertungen aus 42 Staaten Europas und Asiens. Ein Voting steht
bereits fest. Aliyev: zéro points.

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