Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar KOMMENTARE Der Fall Timoschenko Gauck nimmt sich die Freiheit JOHANN VOLLMER

Eine der ersten Handlungen des neuen
Bundespräsidenten ist eine Nicht-Handlung. Joachim Gauck reist nicht
in die Ukraine, ein Land, das die Oppositionsführerin Julia
Timoschenko unter fadenscheinigen Begründungen in Lagerhaft steckte
und das diese ganz offensichtlich drangsaliert und ihr die nötige
medizinische Behandlung verweigert. Die Entscheidung von Joachim
Gauck ist dennoch falsch. Es ist symbolische Politik, die nichts
kostet. Wenn der Bundespräsident als moralische Instanz vom eigenen
Sofa aus agiert, verlässt er ohne Not den Weg der Diplomatie. Der
Bundespräsident hätte auf einem hochrangigen Präsidententreffen in
der Ukraine die Chance gehabt, den Missstand öffentlichkeitswirksam
anzusprechen. Er hätte auf einem Besuch bei der inhaftierten
Timoschenko bestehen und deren Vorwürfe untersuchen können. Gerade
einem Staatsoberhaupt steht eine eigene Meinung zu, aber es hat die
Pflicht, diese auch zu vertreten – am besten vor Ort. Gauck ist so
frei, der Veranstaltung fernzubleiben – und nimmt sich selbst die
Freiheit. Denn der Bundespräsident wird sich bei seinen zukünftigen
Auslandsreisen daran messen lassen müssen, ob es nun nach China
(Menschenrechte), Ungarn (Pressefreiheit) oder in die USA
(Todesstrafe) geht. Sollte er nur noch Ländern einen Besuch
abstatten, die den westeuropäischen Wertekanon erfüllen, wird die
Liste dünn. Dass die Debatte um die Ukraine erst wenige Wochen vor
Anpfiff des Eröffnungsspiels der Fußballeuropameisterschaft geführt
wird, ist ein politisches Armutszeugnis. Schon bei der EM-Vergabe war
klar, dass die Welt nicht bei lupenreinen Demokraten zu Gast ist. In
dieser Situation steckt der Sport nicht zum ersten Mal. Aber für
Bundespräsidenten wie für Nationalmannschaften gilt: rechtzeitig
hinschauen, hingehen, Zeichen setzen.

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