Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Kontinent erwartet Flüchtlingsströme Europas Schockstarre MARTINA HERZOG, BRÜSSEL

Der Umgang Italiens mit dem libyschen Gemetzel
ist ein Trauerspiel. Außenminister Franco Frattini malt den Untergang
des Abendlandes an die Wand, wenn er einen „biblischen Exodus“
prophezeit. Das ist zynisch: als schaute einer Menschen beim
Ertrinken zu und sorgte sich, er selbst könne nasse Füße bekommen.
Beunruhigen sollte die brutale Härte des einst hofierten politischen
Partners Gaddafi, nicht die Fluchtbewegungen, die sie auslöst. Die
Dramatisierungen der Berlusconi-Regierungen sind offensichtlicher
Teil des politischen Spiels. Italien will Hilfe aus Europa. Die wird
es – und das zu Recht – auch bekommen. Doch sie sind auch Symptom
einer tiefer wurzelnden europäischen Sorge. Der deutsche
Verteidigungsminister zu Guttenberg sprach Ende Januar vom Risiko
einer Ansteckung angesichts der Unruhen in Tunesien und Ägypten. Da
vergleicht ein Demokrat den Aufstand gegen diktatorische Regierungen
also indirekt mit einer Krankheit, vor der man sich hüten müsse. Und
Europa als Ganzes hat sich, mal wieder, als Erstes auf eine
Verstärkung des Grenzschutzes geeinigt. Despoten wie Libyens Muammar
al Gaddafi haben die europäischen Sorgen für sich zu nutzen gewusst.
Der libysche Fiesling weiß genau, was er den Europäern wert ist –
oder vielmehr war. Beim EU-Afrika-Gipfel Ende November warnte der
exzentrische Despot, wenn Europa ihn nicht unterstütze bei der
Bekämpfung der illegalen Einwanderung, dann werde der „christliche,
weiße“ Kontinent „schwarz“. Vergangene Woche legte der bedrohte
Diktator aus aktuellem Anlass nach: Falls die EU Forderungen nach
Demokratie unterstütze, werde er die Zusammenarbeit einstellen.
Gaddafis Regime bröselt. Nun erwacht Europa hoffentlich bald aus
seiner selbstbezogenen Schockstarre und greift den Nachbarn im Süden
wirksam unter die Arme.

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