Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Merkel sucht ihr Wahlkampf-Thema Lehren aus Niedersachsen THOMAS SEIM

Bei der Union, sagt Bundeskanzlerin Merkel,
waren alle „ein Stück weit traurig“. Das kann man nach der nun
wirklich knappen Niederlage des schwarz-gelben Bündnisses in
Niedersachsen natürlich verstehen. Für die Ansage eines rigorosen
Lagerwahlkampfes im September im Bund ist das allerdings ein bisschen
dürftig. Da trifft CSU-Chef Seehofer schon eher den Ton, wenn er
Leihstimmen innerhalb des sogenannten bürgerlichen Lagers „verlorene
Stimmen“ nennt. Seehofers Diktum ist natürlich auf die
Zweitstimmen-Kampagne der FDP in Niedersachsen gerichtet. Es gehört
aber zu den bitteren Wahrheiten für die CDU, dass sich diese Mahnung
aus Bayern an sie selbst richtet. Angela Merkel ist ihren Wählern und
Parteifreunden bislang den Beweis schuldig geblieben, dass sie
Mehrheiten kann. Sie hat 2005 beinahe die Wahl verloren. Sie hat 2009
die SPD mit einem Schlafwagen-Wahlkampf demobilisiert. Für die
Begeisterung christdemokratischer Wähler hat es allerdings bei der
CDU-Vorsitzenden nie gereicht. Stattdessen machte sie schon 2009 die
FDP stark, zu der sich – damals heimatlose – Unionswähler flüchteten.
In Berlin und nicht nur dort geistert nicht erst seit gestern eine
Schmonzette durch die Lager der politischen Analysten. Die geht so:
Die besten Aussichten auf einen Wahlerfolg bei der Bundestagswahl
hätte ein rot-grünes Bündnis mit einer Kanzlerin Merkel. Steinbrück
sei eigentlich der bessere Kandidat für ein schwarz-gelbes Bündnis.
So witzig das gemeint sein mag: Der Kampf um die Macht im Bund ist
als Lieferant für Witze ungeeignet, wenn man ihn erfolgreich führen
will. Die Berliner Schmonzette deutet auf ein Problem der derzeitigen
Koalition: Sie steht für einen orientierungslosen Kurs der
Beliebigkeit. Belege dafür haben wir seit 2009 reichlich erlebt: Der
rot-grüne Atomausstieg wurde zunächst teilweise rückgängig gemacht,
dann beschleunigt. Die Wehrpflicht galt als unantastbar, dann ließ
Merkel sie abschaffen. Griechenland sollte keine Euro-Kredite
erhalten, jetzt sind die Risiken so groß, dass es keinerlei
Ausstiegsszenarien mehr gibt. In allen Fällen rückte Merkel von der
konservativen Grundsatz-Programmatik ihrer Union ab. Sie rückte die
Partei damit in die Mitte der Gesellschaft, weil sie – völlig zu
Recht – dort die Mehrheit vermutet. Aber sie entfernte sie zugleich
von ihrer Stammklientel. Die aber braucht man – siehe auch das
Scheitern Gerhard Schröders nach den Hartz-IV-Reformen -, wenn man
einen erfolgreichen Wahlkampf führen will. Die SPD übrigens hat ihr
mobilisierendes Thema gefunden, und die Union fürchtet sich zu Recht
davor: die soziale Gerechtigkeit. Steinbrück soll nur noch das
Euro-Thema und die Wirtschaftskompetenzfrage in der Wirtschaft für
die SPD neutral halten. Die Mobilisierung suchen die Sozialdemokraten
über ihre Kernkompetenz. Für Merkel stellt sich deshalb nach
Niedersachsen vor allem eine entscheidende Frage: Wie und mit welchen
Inhalten will sie die Kernklientel der Union in einem Lagerwahlkampf
im Herbst mobilisieren? Leihstimmen für die FDP werden Schwarz-Gelb
im September dann nicht retten.

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