Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Norwegen und die Folgen Politik ohne Antwort ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN

Noch sind nicht alle Leichen in Norwegen
identifiziert, und schon streitet die deutsche Politik über die
Vorratsdatenspeicherung. Manche mögen das als pietätlos empfinden.
Doch die Aufgabe von Politikern angesichts eines solchen Massakers
besteht nicht nur in Trauerarbeit, sondern auch darin, die
Bevölkerung vor solchen Gewaltexzessen zu beschützen. Aber geht das
überhaupt? Realistisch betrachtet muss die Antwort leider heißen,
dass die Gräuel von Oslo nicht zu vermeiden gewesen wären. Es handelt
sich um einen Täter, der noch nie vorher polizeilich erfasst worden
ist. Die Vorratsdatenspeicherung beispielsweise entfaltet ihre
Wirkung erst bei der Ermittlung nach einer Straftat. Breivik war aber
noch nie auf dem Radarschirm der Ermittler in Erscheinung getreten.
Er lebte unauffällig, kam aus der Mitte der Gesellschaft, hatte einen
streng christlichen Hintergrund und galt bei Nachbarn als besonders
höflich. Außerdem sieht er mit seinen blauen Augen und dem blonden
Haar wie ein normaler Durchschnittsskandinavier aus. Solch einem
Menschen traut man keinen Massenmord zu. Anders Breivik hat sein
wahnhaftes Ich vor allem im Internet zu erkennen gegeben. Dort hat er
seinen antimuslimischen Kreuzzug verbreitet und sich eine eigene
entsetzliche Welt geschaffen. Aber solch hahnebüchenen Unsinn
verbreiten im Netz Tausende, ohne dass sie gleich zum Massenmörder
werden. Das Internet ist in einer freien Gesellschaft nicht
kontrollierbar. Und es ist auch nicht die Ursache für solch einen
Irrsinn. Der Oklahoma-Bomber, der Breivik in vielen Details ähnlich
ist, hat seine Untat Anfang der 90er Jahre geplant, als das Internet
als Massenmedium noch gar nicht zur Verfügung stand. Die Politiker
geben nicht gerne zu, dass sie manchmal auch einfach hilflos sind.
Deshalb werden sie weiter über das NPD-Verbot oder über die
Vorratsdatenspeicherung streiten und doch wissen, dass damit keine
der Fragen beantwortet ist, die sich mit dem Massaker von Oslo
stellen. Politisch sind im Zusammenhang mit dem Massaker ganz andere
Dinge bemerkenswert: die Bereitschaft der Norweger, weiterhin eine
offene Gesellschaft zu bleiben und den eigenen Lebensstil zu
verteidigen. Aber das ist nur ein Teil des Bildes. Gleichzeitig
breitet sich immer stärker die schmerzhafte Erkenntnis aus, dass die
skandinavischen Länder ihre Bullerbü-Seligkeit verloren haben. Die
Länder Nordeuropas galten lange als Inbegriff von Liberalität und als
glückbringende Wohlfahrtsstaaten. Doch gerade dort wachsen
populistische und rechtsextremistische Bewegungen besonders stark.
Die Skandinavier werden diese neuen Herausforderungen zweifellos
meistern – und vielleicht kann der Rest von Europa daraus lernen.

Pressekontakt:
Neue Westfälische
News Desk
Telefon: 0521 555 271
nachrichten@neue-westfaelische.de