Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Rot-Rot-Grün in Thüringen Folgen für Berlin CARSTEN HEIL

Die Geschichte ist ein immerwährender Prozess.
Er endet nicht. Und was vor Jahren noch unmöglich, ja sogar undenkbar
war, ist plötzlich Realität und gut und richtig. Mit Bodo Ramelow ist
erstmals ein Linker Ministerpräsident eines Bundeslandes geworden. 25
Jahre nach dem Fall der Mauer löst das zwar immer noch Kritik und
Proteste aus. Aber letztlich gehört das in diesem historischen
Prozess zur Normalität. Früher oder später mussten die
SED-/PDS-Nachfolger Verantwortung übernehmen. Stasi- und SED-Opfer
mögen darauf aus individueller Betroffenheit eine andere Sichtweise
haben. Das wird sich auch auf Jahre hinaus nicht ändern und ist zu
verstehen. Politiker der Linken haben sich jedoch in den vergangenen
Jahren in Regierungsbeteiligung immer als vernünftig und verlässlich
erwiesen. Das gilt für Berlin, für Mecklenburg-Vorpommern schon sehr
früh und auch für Sachsen-Anhalt. Deshalb wird der nächste Schritt –
ein Linker sogar als Regierungschef – Auswirkungen auf die
Bundespolitik haben. Wenn Rot-Rot-Grün in Thüringen funktioniert,
werden sich die Kräfteverhältnisse auch in Berlin ändern. Die
Parteizentralen in Berlin werden sehr genau hinschauen, was in Erfurt
passiert. Die SPD hat gar keine andere Chance, als sich den
ungeliebten Linken anzunähern, will sie in absehbarer Zeit mal wieder
ins Kanzleramt einziehen. Im 25-Prozent-Ghetto, in dem sie
eingesperrt ist, reichen die Grünen als Koalitionspartner allein
nicht mehr für die Regierungsmehrheit. Und die Grünen werden nicht
ewig in aussichtsloser Situation an der Seite der SPD warten, bis es
irgendwann doch noch mal für Rot-Grün alleine reicht. Längst
entwickeln sie sich zur FDP der 80er und 90er Jahre – zur
Mehrheitsbeschafferpartei. In den Ländern regieren sie schon in
unterschiedlichen Koalitionen. Ohne rot-grüne Machtperspektive werden
die Ex-Ökos schon bald im Bett der Union landen. Entsprechend ist die
SPD zwingend auf die Linken angewiesen. Um dem grünen
Lieblingspartner etwas bieten zu können. Zumal die Linken vor allem
im Osten sehr sozialdemokratisch und vernünftig unterwegs sind. Die
alten SED-Kader sterben im Laufe des historischen Prozesses aus, die
Verwerfungen über die Agenda 2010 verblassen zunehmend, Oskar
Lafontaine gerät in Vergessenheit. Die trennenden Gräben werden in
wenigen Jahren nicht mehr zu sehen sein. Nur im Westen sind die
Linken noch sehr mit Wirrköpfen durchsetzt und als politische Kraft
zu unzuverlässig. Versprengte aus allen möglichen linken Parteien
haben dort Heimat gefunden. Da wird die Geschichte noch länger
benötigen, bis sie zu einer klugen Lösung findet. Deshalb muss die
SPD besonders in NRW klug agieren. Sie als stärkster Landesverband
der Partei darf die Verfassung der NRW-Linken nicht auf ganz
Deutschland übertragen. Dann würde sie Perspektiven vernageln. Für
die SPD insgesamt ist diese Abhängigkeit von den Linken nur
vordergründig ein Armutszeugnis. Bei ihr herrscht zwar Ratlosigkeit
darüber, dass ihr ihre unbestreitbaren politischen Erfolge in der
Großen Koalition nicht helfen. Doch vielleicht ist es Teil des
politisch-historischen Prozesses, dass das einst im Osten unter dem
Zwang der Diktatur vereinigte linke Projekt (SPD und KPD wurden zur
SED) nun in der Zukunft der Demokratie auf freiwilligem Wege
zusammenwächst. Geschichte endet nicht.

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