Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR: Weihnachten 2011

Das Glas ist halb voll

THOMAS SEIM

Gestern in einer größeren Stadt in Ostwestfalen-Lippe hörte ich
folgende Sätze in einem Dialog: „Ach, es gibt keine weiße Weihnacht.
Da fühlt man sich gar nicht so richtig weihnachtlich-festlich.“
Tatsächlich: Unser Weihnachten 2011 muss ohne weiße Pracht auskommen.
Schade! Aber irre ich mich, oder lautete der Dialog vor einem Jahr:
„Diese Schneemassen sind ja furchtbar. Man weiß gar nicht, wie man
die ganzen Festvorbereitungen treffen und Verwandte besuchen soll.“?
Ja, ja: 2010 gab es weiße Weihnachten wie selten zuvor. Aber
zufrieden machte uns das mit den rutschenden Autos, zugeschneiten
Parkplätzen und der Schneeschieberei damals auch nicht. Es gehört
wohl zu unseren Eigenheiten, dass wir das Glas lieber halb leer sehen
als halb voll. Und vielleicht ist das ja gar keine schlechte
Strategie fürs Leben. Wenn man nicht zu viel erwartet, sinkt die
Gefahr, enttäuscht zu werden. Und es gab Enttäuschungen in diesem
Jahr, sicher. Erwartete und nicht erwartete. Das Scheitern der
deutschen Frauen-Fußball-Nationalmannschaft beispielsweise. Das
hatten wir ganz anders erhofft. Oder der Papst-Besuch. Viele, viele
tausend haben ihn gefeiert. Aber die Chance zum Ausgleich mit den
evangelischen Christen hat Benedikt XVI. – sagen wir: – nicht optimal
genutzt. Wir mussten lernen, dass es eine unglaublich hohe Zahl von
erschlichenen Doktortiteln gibt. Und ein wenig haben wir uns
erschrocken vor der unbesorgten Liederlichkeit, mit der Politiker und
Politikerinnen bis in höchste Staatsämter es nicht so genau nahmen
mit Aufrichtigkeit und Eigenleistung. Es gab schmuddelige angebliche
oder tatsächliche Affären von Männern, die nicht respektvoll mit
Frauen umgegangen sein sollen, jedenfalls aber nicht zur
Verantwortung zu ziehen waren. Es gab furchtbare Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und ein alles Gewesene in einen traurigen Schatten
stellendes Massaker von Oslo. Nicht zuletzt: Wir mussten in
Fuku-shima in die atomare Hölle schauen, um schneller als je gedacht
Grundsätze deutscher Atompolitik zu schleifen. Es gab gescheiterte
Politikmodelle, Wirbel um den Euro und einen Stuttgarter Bahnhof. Und
wir hier sorgten uns um Arminia. Ja, es waren viele schlechte
Nachrichten 2011. Aber es gab auch ein paar gute. Arminia ist
stabilisiert, der SC Paderborn schielt gar auf die erste Bundesliga.
Die Fußball-Nationalmannschaft ist so stark wie lange nicht und hat
eine rekordverdächtige Erfolgsserie hingelegt. Wir haben die
Euro-Krise – vorerst – entschärft, die deutsche Wirtschaft wuchs zum
zweiten Mal hintereinander deutlich stärker als gewohnt, die Gewinne
stiegen, Löhne und Gehälter auch. Die Renten sind stärker angehoben
worden als in den Vorjahren. Auf dem Weg zur Vollbeschäftigung sind
wir ein gutes Stück vorangekommen. Es gibt also Gründe, das Glas 2011
als halb gefüllt zu werten. Selbst wenn es halb leer war. Und
wenigstens für die vor uns liegenden Festtage sollten wir das Erste
gelten lassen. Mit oder ohne Schnee auf den Straßen. Frohe
Weihnachten!

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