Es gibt kaum einen deutschen Außenminister,
dessen Name eine eigene außenpolitische Strategie definiert.
Hans-Dietrich Genscher hat diesen Eintrag in die Geschichtsbücher
geschafft: Genscherismus – das bezeichnet die Phase der Außenpolitik,
die eine Brücke des Vertrauens zwischen West und Ost schaffen wollte.
Deutschlands oberster Diplomat stützte sich dabei auf eine Erkenntnis
der frühen 1970er Jahre, die von der einseitig militärischen
Sicherheitspolitik für Europa abrücken wollte. Der Genscherismus nahm
so Mitte der 80er Jahre jenen Gedanken des Wandels durch Annäherung
neu auf, der schon Willy Brandts Ostpolitik antrieb. Beliebt machte
sich Genscher damals nicht. Im innenpolitischen Streit warf man ihm –
je nach politischer Sortierung – Ausgleichs-, Pendel- oder
Scheckbuch-Diplomatie vor. Satiriker und Gegner machten sich lustig
über die Reiserei des Außenministers. US-Diplomaten wiederum sahen im
Reagan-Jahrzehnt in Genscher den „slippery man“, den „aalglatten“
oder auch „gerissenen“ (der US-Botschafter Richard Burt)
„Super-Schlangenmenschen“ (der US-Journalist Jim Hoagland).
Tatsächlich indes versetzte diese Diplomatie und der dann auch für
Genscher überraschend schnelle Zusammenbruch des Ostblocks
Deutschland und den Westen in die Lage, knapp 40 Jahre nach
Kriegsende ihren Einfluss auf die internationale Politik entscheidend
auszubauen. Dieser Erfolg des Genscherismus – in den historischen
Bildern vom Balkon der Prager Botschaft oder an der Seite Helmut
Kohls bei Gorbatschow im Kaukasus dokumentiert – überstrahlt heute
alle anderen politischen Wirren und Querelen, an denen Genscher auch
beteiligt war. Der Bruch der Koalition mit der SPD Helmut Schmidts
1982 gehört dazu, der die FDP spaltete und ihr einen großen Aderlass
an politischen Talenten bescherte. Auch der sehr problematische
Alleingang Genschers bei der Anerkennung der jugoslawischen
Teilrepubliken Slowenien und Kraotien im Dezember 1991 entsprach
nicht den Vereinbarungen mit den Partnern der Europäischen
Gemeinschaft und der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Bis heute beruft
sich Russland – beispielsweise bei einseitigen Grenzverletzungen in
der Ukraine – auf Genscher. Für seine Partei, die FDP, der er sich
zeitlebens so tief verbunden fühlte, dass er mit gelbem Pullunder und
dunkelblauem Jackett stets ihre Farben trug, konnte er nach seinem
Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt nicht mehr erfolgreich wirken.
Die von ihm stets geförderten jungen liberalen Talente haben es
bislang nicht geschafft, ihre Partei auf das Niveau des obersten
Genscheristen zu führen. Der Niedergang seiner FDP schmerzte Genscher
bis zuletzt tief. Ein großer deutscher Diplomat ist von uns gegangen.
Mit ihm ging eine der wenigen noch verbliebenen historischen Figuren
einer großen historischen Epoche.
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