Neue Westfälische (Bielefeld): Land ohne Führung Verantwortung ist gefragt CARSTEN HEIL

Der Begriff Führung ist in Deutschland mit
Vorsicht zu verwenden. Historisch zu sehr belastet ist die
Vorstellung, dass einige wenige, im schlimmsten Fall nur einer,
bestimmen, wo es lang geht. Dennoch braucht ein 80-Millionen-Volk,
ein Land mit der Wirtschaftskraft Deutschlands so etwas wie Führung
und Orientierung. Selbst ein demokratischer Diskurs, der am Ende zum
bestmöglichen Ergebnis führt, muss geleitet werden. Genau daran aber
mangelt es: Die Bundesregierung samt Kanzlerin ist zerstritten, kann
sich nicht auf eine klare Linie einigen und findet stets nur den
kleinsten Kompromiss, der der Sache nicht gerecht wird. So ist es
beim Sparpaket gelaufen, so schwankte die Regierung bei den
Opel-Hilfen, so umstritten ist die Wehrpflicht und auch für die
Gesundheitsreform ist nicht der große Wurf zu erwarten. Einen
Bundespräsidenten hat Deutschland nach der Flucht Horst Köhlers aus
dem Amt nicht mehr und es wird Monate dauern, bis sich sein
Nachfolger so viel Reputation erworben hat, dass er die Richtung
weisen könnte. In NRW tun sich die Parteien enorm schwer, eine
Landesregierung zu bilden, die stabile Verhältnisse bietet. Die
Katholische Kirche fällt wegen des falschen Umgangs mit den endlich
aufgeflogenen Missbrauchsfällen und wegen der internen
Schlammschlachten um Ex-Bischof Walter Mixa als glaubwürdige Mahnerin
aus. Die Evangelische Kirche hat mit dem unrühmlichen Ende von Margot
Käßmann als EKD-Ratsvorsitzender eine wichtige Stimme in der
Öffentlichkeit verloren. Ihr Nachfolger Nikolaus Schneider wird kaum
wahrgenommen. Wirtschaft und Finanzbranche haben ihre Glaubwürdigkeit
längst verspielt, gelten nur noch als Raffkes in eigener Sache. Und
die Kulturszene ist ausgeschaltet, weil damit beschäftigt, die
Sparmaßnahmen allerorten zu verkraften. Nirgendwo also eine
gestaltende Kraft derzeit in Deutschland. Keine Person, keine
Institution, die vorangeht oder wenigstens von hinten anschiebt. Kein
Wunder, dass viele Bürger nur noch über „die da oben“ schimpfen. Und
das in einer Phase, in der vor allem die Mittelschicht zunehmend von
Sorgen, vielleicht sogar Ängsten heimgesucht wird, weil sie den
Eindruck hat, wichtige Entwicklungen nicht mehr beeinflussen zu
können. Das Rückgrat der Gesellschaft schrumpft, sinkt überwiegend in
Armut ab. Das hat das Institut für Wirtschaftsforschung in einer
umfangreichen Untersuchung jetzt erneut festgestellt. Ein Ruck in den
Eliten, in den möglichen Führungszirkeln ist erforderlich, ein
Bewusstseinswandel. Zu sehr gilt nur als erfolgreich, wer
Einzelinteressen verfolgt. Gemeinsinn ist nicht sexy. Verantwortliche
müssen Verantwortung für mehr als sich selbst übernehmen, eigene
Interessen mal zurückstellen, nicht gleich alles hinwerfen oder nicht
nur den strategischen Vorteil der eigenen Partei verfolgen. Und das
Publikum sollte gute Eliten, die diesen Begriff verdienen, dann
wieder anerkennen – auch wenn das den Deutschen schwer fällt.

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