NRZ: Nichts als Stimmungsmache – ein Kommentar von KNUT PRIES

Im Streit um die sogenannte Armutseinwanderung wird
schweres Geschütz aufgefahren. Jetzt, wo auch Rumänen und Bulgaren
hierzulande ohne besondere Erlaubnis eine Arbeit aufnehmen dürfen,
tun beide Seiten so, als gehe es ums Ganze. Am Stammtisch, wo sich
die CSU die Lufthoheit gesichert hat, sieht man den Sozialstaat im
Massenzustrom dubioser Balkanesen untergehen. Bei der EU-Kommission
in Brüssel wird hingegen Sturm geläutet, weil die vornehmste
EU-Errungenschaft, das Recht auf Freizügigkeit, auf dem Spiel stehe.
Beides ist übertrieben.

Der Termin selbst hat nicht die Bedeutung, die ihm von den
Unheilspropheten zugeschrieben wird. Rumänen und Bulgaren sind seit
2007 Mitglieder der Europäischen Union. Sie können ohne Visum in
andere EU-Länder einreisen. Von 2,9 Millionen ausgewanderten Bulgaren
und Rumänen leben die meisten in einem anderen EU-Land. Wer sein
Glück im Westen suchte, hatte dazu schon Gelegenheit. Die
Vorstellung, dass weitere Völkerschaften auf gepackten Koffern
sitzen, dürfte ebenso irrig sein wie 2011 die Furcht vor einer
Großinvasion aus dem neuen EU-Mitgliedsland Polen. Es wird
verstärkten Zuzug geben, aber in Maßen.

Und die da kommen, sind in der Regel keine Sozialschmarotzer,
Bettler oder Gauner, sondern überwiegend wirtschaftlich aktive, im
Verhältnis zur Bevölkerung des Gastgeberlandes jüngere, zum Teil gut
ausgebildete Menschen. Sie zahlen mehr in die deutschen Sozialsysteme
ein, als sie von dort zurückbekommen. Die Mobilität der Arbeitskräfte
ist eine Errungenschaft des Binnenmarkts, von der nicht zuletzt das
nachkommenschwache Deutschland profitiert.

Solche Statistiken der EU-Kommission liefern indes nur eine
Gesamtschau. Sie helfen, Probleme an Brennpunkten richtig
einzuordnen, aber sie lösen sie nicht. Stadtvätern, die sich mit
„Roma-Häusern“, Arbeiterstrich und Ghetto-Bildung herumzuschlagen
haben, nützen sie wenig. Das ändert jedoch nichts daran, dass nicht
„Europa“, sondern die Kommunen selbst für solche punktuellen
Schwierigkeiten zuständig sind. Die Staatengemeinschaft EU trägt
hingegen Verantwortung dafür, dass ihre Mitglieder in der Lage sind,
soziales Elend abzubauen und Minderheiten wie die Roma zu
integrieren. Da gibt es wahrlich Versäumnisse zu beklagen. Nur: An
den Gesetzen liegt es nicht. Das Europarecht erlaubt Maßnahmen gegen
Missbrauch. „Wer betrügt, fliegt“ ist rein inhaltlich nichts Neues.
Von der Tonlage her sehr wohl: Es ist nichts als Stimmungsmache.

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