Auch der Volksmund sagt nicht immer die Wahrheit.
Hätten etwa Lügen, wie ein Sprichwort behauptet, kurze Beine, dann
würden wir bei den Olympischen Spielen in London wohl kaum Läufer vom
Schlage eines Usain Bolt sehen. Den Anspruch auf die in der
Rechtsprechung geltende Unschuldsvermutung hat der Hochleistungssport
auf seinem Weg zu immer neuen Rekorden durch eigenes Verschulden
längst verspielt. Aber nicht nur manipulierende (oder manipulierte)
Athleten, bei denen in einer überwiegend nach Erfolg um jeden Preis
strebenden Gesellschaft kaum noch zwischen Opfern und Tätern zu
unterscheiden ist, spiegeln dem Publikum falsche Tatsachen vor. Auch
die Medien, was ausdrücklich als Selbstkritik zu verstehen ist. Wer
in diesen Tagen wieder einmal neue Rekordmeldungen über die Zahl der
geschätzten Fernsehzuschauer bei der Eröffnungsfeier liest (2008 in
Peking war von bis zu vier Milliarden die Rede), sollte wissen, dass
es laut einer Studie gerade mal 1,5 Milliarden Fernsehgeräte auf der
Erde gibt. Realistische, auf der Basis der Einschaltquoten in den
bevölkerungsreichsten Ländern ermittelte Zuschauerzahlen von 500 bis
600 Millionen sind jedoch in einer Welt, die sich das olympische
Motto vom „schneller, höher, stärker“ zu eigen gemacht hat, nicht
mehr spektakulär genug. Dabei hat die vom französischen Baron Pierre
de Coubertin 1896 wiederbelebte Idee aus der Antike auch ohne
Übertreibung viel zu bieten. Obwohl immer wieder von der Politik
missbraucht, haben sich die Olympischen Spiele als unzerstörbar
erwiesen und sind mit Teilnehmern aus 204 Ländern (wenigstens diese
Zahl ist verbürgt) nach wie vor das letzte große Fest der Menschheit.
Vier Jahre nach den Pekinger Auflage, von der die fatale Botschaft
ausging, Olympische Spiele in einer Atmosphäre der Repression seien
akzeptabel, bietet London, was nicht gering zu schätzen ist, wieder
die Chance einer von politischer Einflussnahme weitgehend freien
Veranstaltung. Daran ändert auch nichts die Anwesenheit von vielen
Tausend Soldaten und Polizisten, die für die Sicherheit der Sportler
wie Besucher abgestellt sind. Keine Frage: Coubertins Vision ist von
seinen Nachfolgern inzwischen meistbietend verkauft worden. Was zu
solchen skurrilen Begleiterscheinungen führt, dass die im Umfeld
sämtlicher Wettkampfstätten angebotenen Pommes frites ausschließlich
vom Hauptsponsor McDonald–s stammen müssen. Aber so schamlos die
olympischen Ideale im Laufe der Zeit auch verraten wurden – sie sind
es allemal wert, verteidigt zu werden. Vergessen wir nicht: In den
nächsten zwei Wochen erleben wir auch wieder leuchtende Beispiele von
Willenskraft, Teamgeist und Fairplay. Gründe genug, um die
ungebrochene Faszination Olympias in Zeiten berechtigt wachsender
Skepsis gegenüber dem Hochleistungssport und seiner Organisatoren zu
erklären. Auch London 2012 wird weltweit wieder Millionen Menschen,
wie viele auch immer, in den Bann ziehen. Und dabei dank
überwältigender, emotionaler Bilder helfen, von echten
Schlachtfeldern und Krisenherden abzulenken. Das mag man bedauern.
Gleichwohl sollte sich niemand seine ehrliche Freude auf die
Wettkämpfe vermiesen lassen. Gilt doch: Mit all ihren Widersprüchen
stellen die Spiele die Welt dar, in der wir leben.
Pressekontakt:
Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung
Redaktion
Telefon: 0201/8042616
Weitere Informationen unter:
http://