Rheinische Post: Die NRW-Politik ist in Bewegung Kommentar Von Sven Gösmann

Heute will der Vorsitzende der
FDP-Landtagsfraktion, Gerhard Papke, der Öffentlichkeit erläutern,
warum seine Liberalen die rot-grüne Minderheitsregierung im Land
stützen wollen, die sie bislang erbittert bekämpften. Papkes
Pressekonferenz wird am Abend von einem glamourösen Auftritt der
Ministerpräsidentin in der Landeshauptstadt flankiert, wenn Hannelore
Kraft 550 Zum-Großteil-Nicht-SPD-Wählern beim „Ständehaus-Treff“
erklärt, warum sie von Neuwahlen plötzlich nichts mehr hält. Die
fröhliche Sozialdemokratin spricht inzwischen nur noch verächtlich
vom „N-Wort“. Das zeitliche Zusammentreffen beider Auftritte ist
Zufall, aber hilfreich. Denn es wird für die Akteure in Düsseldorf
höchste Zeit, dem staunenden Wahlvolk zu erklären, warum nicht mehr
gilt, was vor Wochen noch Gewissheit schien: Die Liberalen waren da
die einzige echte Opposition gegenüber der rot-grünen
Minderheitsregierung, CDU und Linkspartei dagegen vorher schon
schwach geworden durch die Sirenengesänge aus der „Koalition der
Einladung“. Aus, vorbei, neue Zeiten? Auf jeden Fall vollzieht sich
zeitverzögert, was mit dem rot-grünen Minderheitsexperiment begann.
NRW wird wie häufiger in seiner Geschichte das Labor, das die
Blaupause für die Bundespolitik liefern könnte. Der FDP kommt dabei
eine tragende Rolle zu. Natürlich möchten Papke, FDP-Landeschef Bahr
und die anderen liberalen Größen aus NRW wie Lindner, Westerwelle und
Co. Neuwahlen vor allem nicht, weil sie aus dem Parlament flögen.
Aber die Situation – Euro-Krise, Haushaltsloch – bietet auch
Gelegenheit zu sozialliberalen Lockerungsübungen, wie sie der
Parteispitze in Berlin schon lange vorschweben. Der Zustand der
dortigen Koalition ist mit trostlos freundlich umschrieben.
Gleichzeitig schwindet ihre Machtoption. Im Land wie im Bund scheinen
bürgerliche Mehrheiten, vulgo: Schwarz-Gelb, kaum denkbar. So muss
sich die FDP für neue, alte Bündnispartner wie die Sozialdemokraten
öffnen und ihr pathologisches Verhältnis zu den Grünen klären. Die
SPD wiederum ist die einzige Partei mit Multi-Koalitionsoptionen: mit
der CDU, mit den Grünen, den Linken, der FDP. Sogar die Piraten,
sollten sie kein Phänomen bleiben, wären mögliche Verbündete. Die
Landes-CDU mit ihrem Mitte-Vorsitzenden Norbert Röttgen hat darauf
reagiert. Die Schulpolitik als Streitfaktor mit SPD oder Grünen ist
vom Tisch, Röttgen wäre ebenfalls multikoalitionsfähig. Nun also
ziehen die Liberalen nach. Dass ausgerechnet der bisherige
Grünen-Fresser Papke die taktische Volte vollzieht, mag für die
Liberalen die einzige Chance sein, die Glaubwürdigkeit bei ihren
verbliebenen wirtschaftsfreundlichen Anhängern zu erhalten. Die
NRW-Politik gerät also in Bewegung. Ob die FDP dabei Selbstmord aus
Angst vor dem Tod begeht, wird sich erweisen. Allerdings: Auf der
Intensivstation liegt die FDP ohnehin schon.

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