Rheinische Post: Haushalt außer Kraft

Ein Kommentar von Sven Gösmann:

Am Montag war an dieser Stelle zu lesen, Nordrhein-Westfalen sei
ein Land ohne Opposition. Dies bedarf heute einer Korrektur. Es gibt
eine Opposition. Sie ist 63 Jahre alt, trägt Bart und rote Robe,
heißt Michael Bertrams und ist Präsident des
Landesverfassungsgerichtshofs. Natürlich hat Richter Bertrams nur
seines Amtes gewaltet, das aber wirkungsmächtig. Ein Hauch von „Wir
sind das Volk“ weht durch das Schreiben, mit dem er Rot-Grün weitere
Kreditaufnahmen verbietet. Bertrams gelang, was die
Oppositionsfraktionen nicht geschafft hatten: die Aufmerksamkeit
einer breiten Öffentlichkeit auf das rot-grüne Finanz-Unwesen zu
lenken. Das Gericht hat die Schuldenorgie der Minderheitsregierung
kontrolliert und als für keinen Tag länger erträglich befunden. Noch
ist das nur ein Vorgang von immenser Symbolik: Höchstrichterlich,
wenn auch vorläufig, bescheinigt Bertrams Rot-Grün, nicht mit Geld
umgehen zu können. Im Land der Bausparer ist das ein Image-GAU.
Haushalt außer Kraft sozusagen. Um wahrgenommen zu werden, musste der
Jurist allerdings Rechtsgeschichte schreiben. Erstmals schaltet sich
ein Gericht in einen laufenden Haushalt ein und konstatiert nicht
erst im Nachhinein die Unvereinbarkeit eines Etatentwurfs mit der
Verfassung. So berührt die Rechtsprechung das vornehmste Recht des
Parlaments, das Haushaltsrecht, und lähmt die ausführende Gewalt, die
Regierung. Es lohnt, die Folgen des Münsteraner Eingreifens
weiterzudenken: Schwer vorstellbar, dass sich Rot-Grün der Gefahr
aussetzt, seine Finanzpolitik dauerhaft als unseriös zerpflücken zu
lassen. Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann müssen ihren
Regierungsmodus umstellen: von „Versöhnen statt spalten II“ auf
„Eiserne Ladies“. Das ist riskant. Rot-Grün in Berlin, Stichwort
„Agenda 2010“, hat das umgebracht. Für das Land richtig war es
trotzdem. Die Linke fällt jedoch als Mehrheitsbeschaffer für eine
solche Politik aus. Die Liberalen könnten eine Option für Rot-Grün
sein. Mehr spricht aufgrund der großen Geschlossenheit der Koalition
aber dafür, dass sich Rot-Grün doch durch Neuwahlen ein Mandat für
einen Kurs der Konsolidierung holen könnte. Denn das Signal aus
Münster gilt nicht nur der Politik, sondern uns allen. Wir haben es
uns in einem Denken bequem gemacht, das viel vom Staat erwartet, aber
möglichst wenig zurückgeben will. Regierungen versuchen, Rot-Grün
geradezu exzessiv, diese Erwartungshaltung zu befriedigen. „Privat
vor Staat“, „schlanker Staat“, Politikansätze, die auf dem
Konzept-Müllhaufen der jüngsten Geschichte gelandet schienen,
gewinnen an Aktualität. Rot-Grün wie jede andere Konstellation muss
einen verfassungsgemäßen, bis 2020 sogar ausgeglichenen Haushalt
aufstellen. Dies geht nur mit Kürzungen bei Personal und Privilegien,
der Reduktion staatlicher Aufgaben sowie einer Senkung unserer
Ansprüche. Willkommen in der Wirklichkeit.

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