Rheinische Post: Schottland – Lehrstück für politische Vernunft

Kommentar von Martin Kessler

Die Briten, Engländer wie Schotten eingeschlossen, können stolz
sein auf ihre Demokratie. Selten hat ein Land ein solches
Reifezeugnis abgelegt. Mit großer Leidenschaft haben beide Seiten für
ihre Sache gekämpft – die Unionisten für die Einheit, die
Nationalisten für die Unabhängigkeit. Aber anders als es die Begriffe
vermuten lassen, entstand daraus ein fairer politischer Wettbewerb.
Am Ende siegte die Gruppe, die sich für eine Beibehaltung der
staatlichen Bindung Schottlands an Großbritannien aussprach. Und die
Unterlegenen akzeptierten. Mehr Demokratie ist nicht möglich. In den
meisten Teilen der übrigen Welt geht so etwas nicht ohne Betrug,
Gewalt oder politische Vergiftung ab – siehe Balkan, Sudan,
Afghanistan oder Ukraine. Ob das gescheiterte Referendum die anderen
Unabhängigkeitsbewegungen in Europa beeinflusst, ist unklar.
Katalanen, Basken, Flamen oder Korsen, die selbstständig werden
wollen, werden durch das schottische Nein nicht von ihren Träumen
lassen. Die Katalanen wollen es mit einem Referendum am 9. November
versuchen. Die spanische Regierung hat es schon für illegal erklärt.
Warum eigentlich? Könnte es nicht sein, dass sich auch hier eine
Mehrheit für die Vernunft entscheidet? Offenbar hat die konservative
Regierung Angst vor der Demokratie. Sieger des Referendums ist
eindeutig der britische Premier David Cameron. Bislang ist er nicht
gerade durch eine sonderlich glückliche Hand aufgefallen. Sein
Regierungspartner schwächelt, er selbst hat bei der Frage nach einem
Truppeneinsatz in Syrien im Parlament eine empfindliche Niederlage
erlitten. Jetzt hat er mit seinem leidenschaftlichen Appell für die
Einheit den Fortbestand seines Landes gesichert. Aber Großbritannien
wird sich verändern. Das einseitig auf London fixierte Land muss
seinen Teilen mehr Kompetenzen einräumen. Davon werden nicht nur die
Schotten, sondern auch die Waliser und Nordiren, ja selbst die
Engländer profitieren. Hier kommt nun eine Tradition ins Spiel, die
ihre Heimat in Deutschland, der Schweiz oder den USA hat – der
Föderalismus. Es wäre den Briten zu wünschen, dass sie aus den
Fehlern des deutschen Föderalismus lernen. Es kann nicht sein, dass
jede Ebene, die nationale, regionale oder kommunale, auf jeder
anderen Ebene mitentscheidet, wie es das Modell des kooperativen
Föderalismus à la Bundesrepublik vorsieht. Besser ist es, wenn jede
Ebene für sich entscheidet und dafür die Verantwortung trägt. Das
wäre Autonomie im nationalen Verbund – und könnte die Unterlegenen im
schottischen Referendum trösten.

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