Schwäbische Zeitung: Am Rande der Krise – Leitartikel

Dass es ganz eng werden könnte, ist den meisten
klar. Dennoch wird die Mutmaßung heruntergespielt, dass die SPD-Basis
Nein zum Koalitionsvertrag mit der Union sagen könnte. Dass aber
diese Gefahr ganz real droht, lässt sich an der hektischen
Betriebsamkeit der Parteispitze erkennen. Über Regionalversammlungen
versuchen die Obergenossen, ihre Parteifreunde von den Segnungen der
Vereinbarungen mit CDU/CSU zu überzeugen. Parteichef Gabriel kämpft
dabei nicht nur um die Inhalte, sondern konkret um seinen Job.

Doch kein Tag vergeht, an dem nicht ein prominenter
Sozialdemokrat, ein Kreisverband oder auch ein greiser Dichter die
SPD davor warnt, mit den Christdemokraten eine gemeinsame Regierung
zu bilden. Viele von ihnen blenden aus, dass ihre Partei ein
dramatisch schlechtes Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren
hat, trotz linken Programms, trotz einer klaren Abkehr von der
wirtschaftlich erfolgreichen Schröder-Regierung. Für diese Herrscher
aller dogmatischen Reußen geht es um die Empfindsamkeit der
sozialdemokratischen Seele. Sie blenden aus, dass sie die
Regierungsfähigkeit der SPD infrage stellen und dass sie bei einem
mehrheitlichen Nein die SPD und Deutschland als Ganzes in eine
schwere Krise stürzen würden.

Wahrscheinlich liegt es an Hannelore Kraft, der
Ministerpräsidentin von NRW, ein solches Desaster zu verhindern. Sie
äußerte sich zu Beginn der Gespräche sehr kritisch über eine Große
Koalition, wurde aber im Laufe der Verhandlungen zu einer
Befürworterin. So gelang es ihr, die Interessen der Stromriesen im
Bereich der Energiewende durchzudrücken. Kraft, die kein Amt im
Bundeskabinett anstrebt, ist die einzige, die eine zutiefst
verunsicherte Basis überzeugen kann, den Koalitionsvertrag
durchzuwinken. Sie betreibt Politik ganz nach der ihres großen
Vorbilds Johannes Rau: Harte Interessenspolitik wird verbunden mit
der Mahnung, Herz und Seele nicht zu vergessen. Anders ausgedrückt:
Rein in die Große Koalition, trotz aller Vorbehalte.

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