Wer sich einen Arzt auswählt, von dem er weiß,
dass bei jedem Besuch eine Rüge wegen schlechten Lebenswandels fällig
ist anstelle von Beruhigungspillen, der hat einen leichten Hang zum
Masochismus. Diesen Hang muss man eigentlich auch all den
europäischen Spitzenpolitikern attestieren, die am Freitag zur
Vergabe des Karlspreises an Papst Franziskus nach Rom gepilgert sind.
Sie wussten, dass dieser Heilige Vater in der Vergangenheit keine
Gelegenheit ausgelassen hat, ihnen die Leviten zu lesen. Sie wussten,
dass er auch diesmal Wiederholungstäter sein würde. Gekommen sind sie
dennoch – oder gerade deswegen.
Denn möglicherweise tut es bisweilen gut zu hören, wie es sein
könnte, wenn es so liefe, wie es laufen sollte. Der Argentinier auf
dem Stuhl Petri scheint die europäischen Grundwerte tatsächlich
stärker verinnerlicht zu haben als jeder europäische Politiker an den
Schalthebeln der Macht. Vielleicht musste jemand „vom anderen Ende
der Welt“ kommen, um den Europäern ihre Krankheiten zu
diagnostizieren. Nur in dieser schonungslosen Diagnose des Papstes
gründet die Auszeichnung mit dem Preis, der ursprünglich Verdienste
um die Einigung Europas würdigen sollte. Aber – um im Bild zu bleiben
– ohne Diagnose gibt es keine Chance auf wirkungsvolle Behandlung,
und in diesem Sinne hat Franziskus sich Meriten verdient. Seine
Botschaft ist einfach. Europas Grundwerte sind zutiefst christliche,
und wenn sich die Europäer dieser Werte besinnen, können sie
gemeinsam auch die Migrationsprobleme lösen. Ein auf seinen
Grundwerten basierendes Europa könnte gelassen sein, bräuchte keine
Angst vor Überfremdung und Islamisierung zu haben. Nebenbei: Der
deutsche Kardinal Walter Kasper hat am Freitag in seiner Predigt
Fremdenhass als „Todsünde“ eingestuft.
Es spricht dennoch wenig dafür, dass aus dem Wunschbild und den
Hoffnungen des Papstes in absehbarer Zeit Realität werden kann. Die
Politiker werden weiter ihre Realpolitik betreiben – bestenfalls mit
schlechtem Gewissen.
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