Schwäbische Zeitung: Ein zerrissener Koloss

Es mutet immer wieder sehr bemüht an, wenn
versucht wird, brasilianische Politik anhand von deutschen
Parteistrukturen zu erklären. Da wird dann ein Kandidat zum
Sozialisten, Sozialdemokraten, Grünen oder Konservativen, obwohl er
sich in weiten Teilen nicht von seinem Konkurrenten unterscheidet.

In Brasilien dienen Parteien der eigenen politischen Plattform und
nicht einer Idee. Parteiwechsel von Politikern zugunsten der
persönlichen Karriere sind keine Ausnahmen, sondern vielfach die
Regel, siehe die jetzt gescheiterte Ex-Umweltministerin Marina Silva.
Dass Präsidentin Dilma Rousseff in die Stichwahl muss, ist keine
Überraschung. Die „linke“ Rousseff hat ihr Wählerreservoir auf dem
Lande und im Afrika ähnelnden unterentwickelten Norden. Ihr
„marktliberaler“ Rivale Aécio Nevez holt hingegen seine Stimmen in
den Metropolen und im Süden und Südosten, wo sich Brasilien in weiten
Teilen nicht von Südeuropa unterscheidet. Der größte Staat
Lateinamerikas ist eben ein politisch und sozial zerrissener Koloss.

Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Rousseff und Nevez
sind trotz Wahlkampfspektakel ähnlich: vorsichtige Sozialreformen
innerhalb eines marktwirtschaftlichen Rahmens. Ansonsten sind beide
ausgesprochen selbstbewusst und fordern mehr weltpolitischen Einfluss
für Brasilien. Nevez ist erstaunlich gut durch den ersten Wahlgang
gekommen. Vielleicht entwickelt sich ja doch eine Wechselstimmung
nach jahrzehntelanger Regierung der Arbeitspartei. Im Vorfeld der
Fußball-WM gab es viele Proteste, Demonstrationen, Enttäuschungen.
Möglich, dass sich diese Gemengelage jetzt kanalisiert und Aécio
Nevez davon profitiert.

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