Recep Tayyip Erdogan ist zweifellos ein Mann
mit außerordentlichen Fähigkeiten. Der türkische Ministerpräsident
beherrscht die Klaviatur des Machtpolitikers wie wenige. Alle
Proteststürme im Inland hat er überstanden, alle Mahnungen und
Warnungen aus dem Ausland konnte er folgenlos in den Wind schlagen.
Gescheitert ist er dennoch. Denn konservativer Islam und
großtürkischer Nationalismus passen auf Dauer nicht zu einer
Gesellschaft, deren Ziel erklärtermaßen die Europäische Union sein
soll. Die Minderheit der Türken, die gegen Erdogan aufmuckt, hat dies
erkannt, er aber will sie mundtot machen. Dem sollte auch die
Sperrung des Kurznachrichtendienstes Twitter dienen – eine
gleichermaßen rabiate wie hilflose Aktion. Denn da will einer den
sprichwörtlich entwichenen Geist in die Flasche zurückdrängen. So
richtig hat das aber noch nie und nirgends geklappt.
Allerdings: Noch kann Erdogan seine zahlreichen Anhänger
mobilisieren, ja: aufpeitschen und fanatisieren. Aber zu welchem
Preis? Der zunehmend despotische Regierungschef riskiert eine
dauerhaft zerrissene türkische Gesellschaft. Er nimmt eine
Entfremdung seines Landes von Europa ebenso in Kauf wie den Verlust
seiner Glaubwürdigkeit bei den europäischen Partnern. Wer nimmt ihm
denn dort noch die Rolle des demokratischen Modernisierers ab?
Erdogan scheint jedoch finster entschlossen, diesen Gesamtpreis zu
zahlen, um nur an der Macht bleiben zu können. Dass sich der einstige
Verbündete und heutige Staatspräsident, Abdullah Gül, immer
deutlicher distanziert, ist immerhin ein gutes Zeichen.
Im Übrigen: Speziell Deutschland muss ein großes Interesse an
stabilen Verhältnissen in der Türkei haben. Die meisten der fast drei
Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland haben enge
Bindungen zur früheren Heimat. Es wäre in vielerlei Hinsicht schlimm,
wenn sich der Machtkampf am Bosporus auch hier niederschlagen würde.
Einen Vorgeschmack hat es vergangenes Jahr während der Proteste auf
dem Tahir-Platz schon gegeben.
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