Schwäbische Zeitung: Europa ist kompliziert genug – Leitartikel

Es gibt sie noch, die Liebhaber der EU. Während
die Partei des britischen Premier Cameron gerade mit einem Veto gegen
den EU-Haushalt droht, und damit die gesamte europäische Gemeinschaft
erneut wackelt, bleibt der türkische Ministerpräsident Erdogan dabei,
dass sein Land Mitglied werden will. Aber anders als früher tritt er
nicht mehr als Bittsteller auf, sondern er stellt eine Art Ultimatum.
Wenn es bis 2023 nicht klappt, sei die Türkei für Europa verloren.
Nebenbei erwähnt er vor Wirtschaftsführern in Berlin noch die
Tatsache, dass in seinem Land das Durchschnittsalter gerade einmal 29
Jahre beträgt, da können die Politiker des „good old europe“ nur noch
vor Neid erblassen. 8,5 Prozent Wirtschaftswachstum, Neuverschuldung
von 1,5 Prozent – dass angesichts solcher Zahlen trotzdem in der EU
nicht der Ruf „Die Türkei sofort rein“ erschallt, hat gute Gründe.
Erstens ist die EU so sehr mit der Bewältigung ihrer Krise
beschäftigt, dass es geradezu fahrlässig wäre, in dieser Situation
neue Mitglieder aufzunehmen. Und zweitens ist die Türkei alles andere
als unproblematisch. Das Drama im Nachbarstaat Syrien, der Ärger mit
Israel, komplizierte Beziehungen zum Iran – außenpolitisch steckt
hier viel Sprengstoff. Und was das Innenleben der Türkei betrifft, so
hat sich – während Erdogan in Deutschland weilte – Justizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger in der Türkei umgesehen und gravierende
Verstöße gegen die Pressefreiheit kritisiert. Nein, die Türkei ist
noch nicht reif für einen EU-Beitritt. Und Europa muss erst einmal
mit Politikern wie jenen aus David Camerons Riege umgehen, die die
Dramatik der Lage nicht sehen wollen und Europa nur als
Kosten-Nutzen-Rechnung betrachten. Die Aufnahme eines so großen und
fremden Landes wie der Türkei würde die EU zurzeit überfordern – auch
wenn es langfristig ein Gewinn sein kann. Wirtschaftlich ohnehin,
aber auch politisch. Eine von Europa enttäuschte Türkei, die sich
mehr und mehr der muslimischen Welt zuwendet, liegt nicht im
Interesse Europas.

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