Schwäbische Zeitung: Leitartikel – Die Grenzen der Inklusion

Inklusion ist gut. Sie bringt Menschen mit und
ohne Behinderung zusammen und erweitert so den Horizont auf beiden
Seiten. Sie ermöglicht die Teilhabe Behinderter an einer
Gesellschaft, die diese noch vor wenigen Jahrzehnten ausgegrenzt und
oft in Spezialeinrichtungen versteckt hatte. Es ist nicht allzu lange
her, dass ein Rollstuhlfahrer kaum eine Chance auf einen
Gymnasialbesuch hatte, dass beim Bau von neuen Schulen niemand auf
die Idee von Barrierefreiheit kam. Heute sind wir weiter, und das ist
gut so.

Doch Inklusion hat Grenzen: Die Debatte um Henri zeigt diese sehr
genau auf. So sehr man dem Elfjährigen wünschen mag, dass er zusammen
mit seinen Freunden aufs Gymnasium wechselt – eine entsprechende
Verfügung von oben wäre falsch. Zwar hat Henri, wie jeder andere, das
Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Aber die eigene
Freiheit endet dort, wo Rechte anderer verletzt werden. Die anderer
Eltern, von Regelschullehrern, Sonderpädagogen und möglichen
Mitschülern.

Es ist zu einfach, deren Ängste als Engstirnigkeit abzutun. Längst
nicht alle Sorgen sind unbegründet. So will Baden-Württemberg ab dem
Schuljahr 2015/2016 zwar Inklusion gesetzlich festschreiben – wo die
dafür nötigen bis zu 4000 Lehrerstellen herkommen sollen, ist aber
noch offen. Vertrauensbildung sieht anders aus.

Die Vorbehalte sind übrigens nicht einseitig: In der Modellregion
Biberach entscheidet sich im Schulversuch die breite Mehrheit der
Eltern behinderter Kinder bei freier Wahl gegen die Inklusion und für
die professionelle Vertrautheit der Sonderschule. Soll gemeinsamer
Unterricht funktionieren, braucht es weit mehr als den guten Willen
aller Beteiligten: Ohne qualifiziertes Personal, passende Räume und
eine gute Ausstattung werden Schüler und Lehrer auf der Strecke
bleiben. Inklusion braucht Konzepte, Beispiele, Individualität und
besonders viel Zeit – auch wenn das für Henris Eltern heute kein
großer Trost sein dürfte. Der Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit und
zu mehr Teilhabe ist einfach lang. Doch er lohnt sich.

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