Dass der Bauarbeiter, der sich seit seinem 16.
Lebensjahr den Buckel krummgeschuftet hat, mit 63 Jahren in Rente
gehen möchte, ist nur verständlich. Dass die Näherin, die 45 Jahre
lang in der Produktionslinie gesessen und Teil um Teil bearbeitet
hat, mit 63 Jahren in Rente gehen möchte, ist nur verständlich. Doch
die Debatte um das umstrittene Rentenpaket, das die Große Koalition
am Freitag verabschieden will, lässt sich mit der notwendigen
Objektivität nicht auf der Ebene individueller Schicksale führen. Die
Rentendebatte lässt sich vielmehr nur mit dem Blick für das große
Ganze führen. Und da ist es mehr als fraglich, ob sich die deutsche
Gesellschaft dieses milliardenschwere Rentenpaket leisten kann – von
dem nur eine vergleichsweise kleine Gruppe profitiert.
Die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren zielt – mit
abnehmender Wirkung – ausschließlich auf die heute rentennahen
Jahrgänge. Wer schon in Rente ist oder wer 1964 oder später geboren
wurde, hat nichts davon – außer Mehrbelastungen. Zwischen neun und
elf Milliarden Euro soll das Rentenpaket inklusive der Mütterrente
pro Jahr kosten. Aus ideologisch-strategischen Beweggründen hat die
Union auf der Mütterrente, hat die Sozialdemokratie auf der Rente mit
63 bestanden. Damit setzt die Große Koalition die Zukunftsfähigkeit
unseres Sozialsystems sehenden Auges aufs Spiel, indem sie zuvor
parteiübergreifend und international gutgeheißene Errungenschaften
der Agenda 2010 zurückdreht.
Nur wenige Tage vor der Europawahl ignoriert die Bundesregierung,
dass Deutschland auch deshalb so gut durch die Euro- und Finanzkrise
gekommen ist, weil die Lebensarbeitszeit als Reaktion auf die
demografische Entwicklung im Land verlängert wurde. Und gerade weil
Deutschland dies – durchaus unter Schmerzen – getan hat, durfte es
Gleiches auch von den Krisenländern im Süden verlangen. In der
gesamteuropäischen Reform- und Strukturdebatte wird Deutschland durch
dieses Rentenpaket an Autorität und Respekt verlieren.
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