Schwäbische Zeitung: Opfer warten seit Jahrzehnten – Kommentar zu Auschwitz-Prozess

Wenn sich zwei 94-Jährige als Angeklagter und
Zeuge vor Gericht gegenüberstehen, wirkt das zweifelsohne
befremdlich. Da wird einem Greis der Prozess gemacht für Taten, die
er laut Anklage vor mehr als 70 Jahre begangen haben soll. Zu fragen,
was das noch bringen mag, ist ein naheliegender Reflex. Doch er ist
falsch. Bei diesen Prozessen, die sich jetzt häufen, geht es nicht
nur um die Bestrafung derjenigen, die als junge Männer Teil der
nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie gewesen sein sollen. Es
geht vor allem auch darum, dass die überlebenden Holocaust-Opfer
endlich eine juristische Aufarbeitung der ihnen angetanen Gräuel
erfahren. Darauf mussten sie Jahrzehnte warten.

Die deutsche Strafjustiz hat lange, mit Sicherheit zu lange
gebraucht, bis sie zu einer juristischen Bewertung von NS-Mitläufern
kam, die deren Verurteilung möglich machte. Diesen Weg eröffnete erst
das Demjanjuk-Urteil vor knapp fünf Jahren. Deshalb mag es zwar
befremdlich wirken, dass die Angeklagten nun Greise sind, gebrechlich
und zum Teil kaum verhandlungsfähig. Letztlich ist es aber nur die
logische Folge einer Strafjustiz, die sich mit den Verbrechen der
willigen Rädchen im NS-Getriebe jahrzehntelang schwertat.

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