Fallen und aufstehen
   Am Abend des 3. Oktober 1990 stand ich auf dem Marktplatz in 
Leipzig, unmittelbar vor dem Alten Rathaus. Hinrich Lehmann-Grube, im
Juni –90 frisch gewählter Oberbürgermeister aus der Partnerschaft 
Hannover, hielt die Festrede. Als Höhepunkt brannte eine Feuerfigur 
ab, die die Umrisse von Bundesrepublik und DDR zeigte. Die trennende 
Grenze verschwand am Ende, nur das wiedervereinte Deutschland 
strahlte hell. Dann kamen mehrere Dutzend Rechtsradikale, stürmten 
den Platz und die Feier brach unvermittelt ab. Die Realität hatte die
Heldenstadt Leipzig, in der am 9. Oktober 1989 die entscheidende 
Demonstration der friedlichen Revolution stattgefunden hatte, 
eingeholt. Ein Vierteljahrhundert später kämpft das wiedervereinte 
Deutschland erneut mit ähnlichen Problemen. Wieder sind es 
Rechtsradikale und deren willfährige Anhänger, die vor allem in den 
neuen Ländern dumpfe Parolen grölen und mit der diffusen Angst vieler
Menschen vor Veränderung und Neuem auf Stimmenfang gehen. Mit Pegida 
und Legida werden die Vorurteile der „Wessis“ wieder lauter, die im 
Osten den schlechteren Teil Deutschlands vermuten. Da wird selbst der
von Bundespräsident Joachim Gauck ganz anders gemeinte Begriff des 
hellen und dunklen Deutschlands zu einer geografischen Größe 
umgedeutet. Hinter der Fassade der Feierlichkeiten und Festreden 
bleibt der latente Vorwurf, dass die „da drüben“ ja doch irgendwie 
anders seien. Das sind sie in der Tat – zum Glück für dieses Land. 
Nicht Gesichter wie das der ehemaligen Pegida-Frontfrau Kathrin 
Oertel stehen für die Menschen in den neuen Ländern, sondern 
Millionen, die vor 25 Jahren das ausgeblutete DDR-Regime allein durch
ihren friedlichen Protest zu Fall brachten und sich danach in das 
Abenteuer Bundesrepublik stürzten. Wer heute im gut funktionierenden 
und wirtschaftlich satten Baden-Württemberg sitzt, vermag nicht 
einzuschätzen, was der Umbruch vor 25 Jahren für die Menschen der DDR
bedeutete. Abschlüsse, Studien, Lebensbiografien lösten sich über 
Nacht auf, waren plötzlich nichts mehr wert. Von den letzten 25 
Jahren habe ich nahezu 15 Jahre im Osten gelebt oder gearbeitet – und
habe nie wieder so viele Beispiele für Mut und Willen zum Aufbruch 
gefunden. Unternehmensgründungen, die keinen Bestand hatten, 
Berufsentscheidungen, die wieder revidiert werden mussten: Fallen und
dennoch wieder aufstehen war das Grundsatzprogramm der ersten Jahre 
nach der Wiedervereinigung. Darum sollten braune Umtriebe unseren 
Blick nicht auf das trüben, was wir am 3. Oktober 1990 gemeinsam 
gewonnen haben. Deutschland und vor allem die Menschen aus den neuen 
Ländern haben eine Herausforderung gemeistert, die vor 25 Jahren 
manchem als zu groß für eine Generation erschien. Heute halten laut 
einer Umfrage des Politbarometers 64 Prozent der Deutschen die 
Probleme der Einheit für weitestgehend gelöst. Aus diesem Bewusstsein
sollten wir auch die Kraft für die nächste große Herausforderung 
schöpfen. Die Aufnahme und Integration von Hunderttausenden 
Flüchtlingen wird in Deutschland mit ähnlich umwälzenden 
Entwicklungen verbunden sein wie dies bei der Wiedervereinigung der 
Fall war. Unsere jüngste Geschichte beweist, dass Politik und 
Gesellschaft – auch verbunden mit Opfern – in der Lage sind, eine 
solche Aufgabe zu meistern. Und darum hat der hart kritisierte Satz 
von Kanzlerin Angela Merkel weiterhin Bestand: Wir schaffen das! 
Kraft für neue Herausforderungen schöpfen
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Südwest Presse
Ulrike Sosalla
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