Standardfloskeln erleichtern es, komplizierte Dinge
auf einen einfachen Nenner zu bringen. Mit dem Ende der
Wirtschaftskrise werden die alten Schlagworte wieder belebt: Das
„Ende der Bescheidenheit“ sei gekommen, rufen die Gewerkschaften,
worauf die Arbeitgeber garantiert warnen werden, „das zarte
Pflänzchen“ des Wachstums gleich wieder kaputt zu treten. Beides sind
Pawlow“sche Reflexe, mit der Wirklichkeit haben sie wenig zu tun.
Denn die große Krise und die Rolle Deutschlands folgten eben nicht
der Schablone. Die Gewerkschaften verlangen, der Aufschwung müsse
jetzt bei den Menschen ankommen. Doch der Umkehrschluss, der in
dieser Legende vom „Lohnverzicht“ steckt, stimmt zumindest für die
Zeit der Krise nicht. Das neue deutsche Wirtschaftswunder offenbarte
sich ja gerade darin, dass es zu keinem nennenswertem Abbau von
Arbeitsplätzen kam. Wer tatsächlich einige Monate lang weniger Geld
bekam, das waren die nicht schlecht bezahlten Mitarbeiter aus den
besonders betroffenen Branchen Metall, Maschinen- und Automobilbau.
Allerdings waren sie es nicht allein, welche die Bürde schulterten.
Im Gegenteil. Die Kosten der Kurzarbeit trugen zu 43 Prozent der
Steuerzahler, zu 36 Prozent die Firmen und lediglich zu 21 Prozent
die Beschäftigten über Lohneinbußen. Wer mit fairem Lastenausgleich
argumentiert, sollte die ganze Wahrheit sagen. Dazu kann man auch
eine andere Zahl heranziehen: das Verhältnis zwischen Lohnsumme und
Gewinnen. Es hat sich in der Krise stark zulasten der Gewinne
verschoben. Auch dies zeigt, dass die Unternehmen alles andere als
die Krisengewinner waren. Aber auch die Arbeitgeber sollten nicht in
ihren Pawlow-Reflex zurückfallen, wonach jede Lohnerhöhung zur Unzeit
kommt und entweder den Aufschwung im Keim erstickt oder ihn abwürgt.
Auch solche Sichtweise wird von dem widerlegt, was die Krise lehrt.
Das neue deutsche Wirtschaftswunder zeigt sich nämlich – zweitens –
vor allem daran, dass der Export in den genannten Schlüsselbranchen
wieder wie geschmiert läuft. Anders gewendet: Deutschlands Firmen
behaupten sich nicht nur im verschärften Konkurrenzkampf der
Globalisierung, sie scheinen gestärkt aus der Rezession
hervorgegangen zu sein. In diesen Zusammenhang passt das
gewerkschaftliche Wort vom Lohnverzicht tatsächlich – und in die
Jahre vor der Krise. Damals machten sich die Konzerne fit für den
Wettbewerb mit den erstarkten Schwellenländern und drückten die hohen
Personalkosten, welche die Gewerkschaften in den neunziger Jahren
durchgesetzt hatten. Jetzt profitieren vor allem auch die
Beschäftigen von den niedrigen Lohnsteigerungen in dieser Zeit.
Jetzt, da die Unternehmen nicht mehr das Kosten- und
Konkurrenzargument in den Vordergrund rücken können, gewinnt das
gewerkschaftliche Lieblingsthema neues Gewicht: die so genannte
Binnennachfrage. Die Zeit ist reif für reale Lohnerhöhungen. Sie
können und sollen das Wachstum abstützen, das vom Geldbeutel des
Konsumenten ausgeht. Wenn die Stahlkocher jetzt sechs Prozent
verlangen, werden sie um die drei Prozent erreichen. Das ist
betrieblich vertretbar und volkswirtschaftlich sinnvoll. Die
Warnungen der Arbeitgeber haben gleichwohl an einem Punkt ihre
Berechtigung: Es ist nicht sicher, ob die Weltwirtschaft im kommenden
Jahr, wenn die Zeit der großen Tarifverhandlungen näher rückt, noch
so aussieht wie im Moment. Die USA müssen alle Register ziehen, um
den Rückfall in die Rezession zu verhindern. Das wissen auch die
Gewerkschaften. Es sieht so aus, dass auch sie daran mitwirken
wollen, dass das neue deutsche Wirtschaftswunder kein kleines
Zwischenhoch bleiben wird.
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