Südwest Presse: LEITARTIKEL · ARBEITSZEIT

Flexibel mit Grenze

Für die soziale Bewegung in Europa ist der Acht-StundenTag ein
Heiligtum: „Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen, acht
Stunden Freizeit und Erholung“ – diese Parole des britischen
„Frühsozialisten“ Robert Owen aus den 1830er Jahren prägt bis heute
die Vorstellung vom Alltag arbeitender Menschen. Owen selbst führte
in seiner eigenen Fabrik immerhin den 10,5-Stunden-Tag ein, was für
damalige Bedingungen schon überaus fortschrittlich war. Sein
Standpunkt: Ausbeutung und Lohnsklaverei sind nicht Voraussetzungen
von Produktivität, sondern stehen dieser vielmehr entgegen. Bis es
der Acht-Stunden-Tag in die deutsche Gesetzgebung schaffte, ging noch
viel Zeit ins Land. 1918 wurde er erstmals festgeschrieben, hatte
aber nur kurz Bestand. In der Nachkriegszeit schlug er sich dann erst
1994 im Arbeitszeitgesetz nieder. Jedoch nicht als strikte Vorgabe,
sondern als Durchschnittswert. Abweichungen nach oben auf bis zu zehn
Stunden pro Tag sind also möglich – wenn sie wieder ausgeglichen
werden. Jetzt pochen Arbeitgeberverbände auf einen Abschied von
dieser Vorgabe. Der Wunsch: Im Gesetz soll nur noch eine wöchentliche
Maximalarbeitszeit stehen. Das Ziel: Die Mitarbeiter mit Blick auf
den digitalen Wandel und betriebliche Notwendigkeiten in einer
24-Stunden-Wirtschaftswelt flexibler einzusetzen. Das birgt in einem
Zeitalter, in dem durch technische Möglichkeiten die Anwesenheit im
Betrieb nicht immer erforderlich ist, durchaus Chancen, aber auch
große Risiken. Wollen die Arbeitgeber bewährte Arbeitnehmerrechte
über den Vorwand der Digitalisierung aushöhlen und so letztlich die
Tür zu längeren Arbeitszeiten und ständiger Erreichbarkeit öffnen,
wie es Gewerkschafter befürchten? Oder geht es ihnen etwa um eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie sie selbst
argumentieren? An beiden Auslegungen dürfte etwas dran sein. Wo
Fachkräftemangel herrscht, müssen Unternehmen gute Angebote machen.
Dazu gehören auch flexible Arbeitszeiten, die es ermöglichen, auch
mal ein krankes Kind zu versorgen oder von der Kita abzuholen, ohne
gleich im Viereck zu springen. Dafür muss man allerdings nicht die
tägliche Höchstarbeitszeit durch eine 48-Stunden-Wochengrenze
ersetzen. Ohnehin ist schon heute in vielen Berufen – gerade wegen
der Digitalisierung – der Acht-Stunden-Tag nur noch Theorie.
Geschäftliche E-Mails werden in der Freizeit beantwortet,
Präsentationen für den nächsten Tag beim Abendbrot fertiggestellt.
Andere arbeiten im Betrieb weitaus länger als vorgegeben. Da kommen
auch mal mehr als zehn Stunden zusammen, ohne dass gleich die Polizei
anklopft. Warum also eine Gesetzesreform? Reißt man eine Hürde
nieder, fallen weitere – etwa die Vorschrift, dass zwischen
Arbeitsende und Arbeitsbeginn mindestens elf Stunden Pause liegen
müssen. Oder das Arbeitsverbot am Sonntag in vielen Branchen. Es
bleibt der Eindruck, dass die Arbeitgeberverbände, nachdem sie
Mindestlohn, Rente mit 63 und Frauenquote schlucken mussten, wieder
mal etwas auf ihrer Habenseite verbuchen wollen. Um Arbeit flexibler
zu gestalten, sind jedoch Arbeitszeitkonten die bessere Wahl, wie es
sie etwa in vielen Metallbetrieben im Südwesten gibt. Über sie kann
man Mehrarbeit auf- und wieder abbauen, ohne gleich Schutzrechte zu
opfern. Dass sich Arbeitgeber hier sträuben, ist zwar
nachvollziehbar, denn auf solchen Konten werden auch alle Überstunden
offiziell verbucht. Mehr Flexibilität darf aber keine Einbahnstraße
in Richtung Mehrarbeit sein. Acht-Stunden-Tag ist schon heute oft nur
Theorie

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Südwest Presse
Ulrike Sosalla
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