Auf Harmonie getrimmt
Es hätte ihr Jahr werden können. Weltweit gärt es. Millionen
Menschen in Washington, Tel Aviv, London und Madrid gehen auf die
Straße, um gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem, gegen die Macht
der Banken und die Ohnmacht der Steuerzahler zu demonstrieren. Noch
nie war die Kritik am Kapitalismus so groß – und das Vertrauen in
jene, die die Marktkräfte zum Nutzen aller steuern sollten, so
gering. Wann war die Linke mit ihren antikapitalistischen Visionen,
mit ihren Warnungen vor der Macht der Monopole und Finanzmärkte,
näher an der Wirklichkeit als heute? Doch die ganzen Monate war es
unüberhörbar still. Die Partei, die für sich selbstbewusst in
Anspruch nimmt, mit ihrem Wirtschaftsprogramm für mehr als 90 Prozent
der Menschen in Deutschland zu sprechen, spielt in der öffentlichen
Debatte mit ihrem ureigenen Thema kaum eine Rolle. Die Ursachen dafür
nur beim politischen Gegner oder den Medien zu suchen, greift zu
kurz. Die Linke hat sich in den zurückliegenden Monaten durch
selbstbezogene Debatten selbst ins Abseits gestellt. Statt die
sozialen und wirtschaftlichen Spannungen in der Gesellschaft zu
thematisieren wurde über Mauerbau, Kommunismus und zuletzt ein
Glückwunschschreiben an Kubas Ex-Staatschef Fidel Castro diskutiert.
In der offenkundigen Wirtschafts- und Finanzkrise beschäftigte sich
die Partei einmal mehr mit sich selbst. Die aus Sicht der Linken
enttäuschenden Ergebnisse bei den Landtagswahlen in diesem Jahr waren
die Quittung dafür. Ebenso die aktuellen Umfragewerte, nach denen die
Linke ungefähr gleichauf mit der Piraten-Partei liegt. Umso
drängender nun der Wunsch, mit dem Parteitag einen dicken Strich
unter diese misslichen Monate zu ziehen. Aufbruch in Erfurt. Die
Stadt in Thüringen war mehrfach gut für nachhaltige Veränderungen.
Der Reformator Martin Luther rebellierte hier vor nunmehr fast 500
Jahren. Auch die Sozialdemokraten schrieben Geschichte, als sie im
Jahr 1891 hier ihr legendäres Erfurter Programm verabschiedeten. 120
Jahre später will nun die Linke an diesem Ort mit ihrer
programmatischen Standortbestimmung, wie sie formuliert, Geschichte
schreiben und sich, so die Spitze, als wahren Erben der deutschen
Sozialdemokratie präsentieren. Gerechtigkeit, Solidarität und
Friedenspolitik sind Kernbegriffe des Programms. Sie werden
konkretisiert mit Forderungen nach einer Verstaatlichung der Banken
und anderer „strukturbestimmender Bereiche“, mit dem Einsatz für ein
Recht auf existenzsichernde Arbeit, der Forderung nach der
kontrollierten Drogenabgabe für Abhängige und dem Nein zu
Militäreinsätzen der Bundeswehr. Mehr noch als durch die Inhalte will
die 2007 aus der PDS (Ost) und der im Westen verankerten WASG
(Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit) hervorgegangene
Partei mit Geschlossenheit Terrain zurückgewinnen. Keine
zerfleischende Debatte sollte auf dem Parteitag die mit strenger
Regie herbeigeführte Harmonie trüben. Programmatische Streitpunkte
wurden vorab entschärft, Personaldebatten ausgespart. Und das, obwohl
schon in der kommenden Woche über die Fraktionsspitze entschieden
wird. Die Partei sei zur Einigkeit verpflichtet, wiederholte die
Parteispitze einem Mantra gleich. Ob diese Aufforderung über Erfurt
hinaus den Alltag erreicht, ist nicht ausgemacht. Der Burgfrieden
zwischen Ost und West, zwischen Reformern und Parteilinken scheint
zerbrechlich. Zudem findet die entscheidende Nagelprobe dafür nicht
auf einem Parteitag, sondern im politischen Alltag statt. Da muss die
Linke ihren Gestaltungswillen erst noch beweisen. Der Parteitag hat
die Zweifel daran, ob sie dieses will und kann, nicht ausgeräumt –
aller demonstrierten Einigkeit zum Trotz.
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Lothar Tolks
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