Thüringische Landeszeitung: Urteil mit Köpfchen – Pauschales Kopftuchverbot war falsch / Leitartikel von Sibylle Göbel zum aktuellen Verfassungsgerichtsurteil

Auch ein Bundesverfassungsgericht ist lernfähig:
Nach zwölf Jahren hat es die Entscheidung revidiert, mit der es 2003
den Ländern das Recht zuschrieb, durch Schulgesetze Kopftuchverbote
zu erlassen. Das ist ein kluger, zeitgemäßer Beschluss, der
keineswegs besagt, dass die Trennung von Kirche und Staat nun
aufgehoben ist oder die obersten Verfassungsrichter in Karlsruhe vor
dem ganz langsam wachsenden Bevölkerungsanteil von Muslimen
kapitulieren.

Man muss doch einmal die Kirche im Dorf lassen: Ein Kopftuch ist
ein Kopftuch – und kein Maschinengewehr, das mitten im Klassenraum
aufgepflanzt wird. Es ist ein völlig ungefährlicher Gegenstand, der
freilich ein Bekenntnis ist und für die Religion steht, in der seine
Trägerin zu Hause ist. Doch wer sich daran stört, der müsste sich
auch an dem Kettchen mit Kreuzanhänger oder Kruzifix stören, das eine
Lehrerin sichtbar um den Hals trägt. Vor allem aber: Wer die
Kopftuchträgerinnen aus dem Schuldienst verbannen will, der enthält
nicht nur muslimischen Schülern ein Vorbild, den lebenden Beweis
dafür vor, dass Integration gelingen und jeder unabhängig von
Religion und Herkunft etwas aus sich machen kann. Er verwehrt auch
muslimischen Frauen den Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit. Er
beraubt sie der Möglichkeit, selbst ihren Lebensunterhalt zu
verdienen und zu belegen, dass Frauen im Islam keinesfalls rechtlos
sind.

Und wo, wenn nicht in der Schule, können sich Kinder und
Jugendliche Toleranz und eine offene Haltung auch in Bezug auf die
Religionen gerade dann aneignen, wenn sie es als normal empfinden,
dass ihnen eine Muslima – vielleicht auch mit Kopftuch – Unterricht
erteilt? Letztlich ist für die Qualität des Unterrichts doch nicht
entscheidend, was jemand auf dem Kopf trägt. Sondern ob er Köpfchen
hat. Und das lässt sich auch durch ein Habit-Verbot nicht regeln.

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