WAZ: CDU auf Kuschelkurs. Leitartikel von Tobias Blasius

Als Ministerpräsidentin Hannelore Kraft das Wagnis
einer Minderheitsregierung einging, fehlte es nicht an warnenden
Stimmen. Wie wollte die Sozialdemokratin bloß das wichtigste deutsche
Flächenland ohne absolute Landtagsmehrheit führen? Parlamentarischer
Kleinkrieg wurde ihrer „Koalition der Einladungen“ vorhergesagt. Fast
ein Jahr später fällt kaum noch auf, dass hier eine ungewöhnliche
Regierungskonstellation am Werk ist. Vielmehr erscheint NRW als Land
ohne Opposition. Vereint in der Furcht vor schnellen Neuwahlen, die
laut Meinungsumfragen nichts Gutes verheißen, lassen CDU, FDP und
Linkspartei Rot-Grün ziemlich unbehelligt. Wer hätte das gedacht?

Vor allem die Oppositionsstrategie der NRW-CDU, stärkste
politische Kraft im Land, gibt Rätsel auf. Haushalt, Schule,
Kommunen, Landesbank – auf allen relevanten Themenfeldern zeigt die
Union sich mittlerweile kompromissbereit, verständnisvoll oder
passiv. Nach einem Frühjahr voll grimmiger Neuwahl-Drohungen scheint
man sich in einer informellen Großen Koalition eingerichtet zu haben.
„Verantwortung für das Land wahrnehmen“ heißt derartige
Oppositionsverweigerung gerne im Politiker-Deutsch. Kraft nutzt die
unverhofften Freiräume geschickt, um sich als bodenständige
Landesmutter bekannt zu machen.

Einem Altvorderen wie dem früheren CDU-Finanzminister Helmut
Linssen ist jüngst die Hutschnur geplatzt. Er mag nicht einsehen,
warum seine Partei nicht weiter mit allen juristischen Mitteln die
immer noch bedenkliche Verschuldungspolitik von Rot-Grün bekämpft.
War es der CDU zunächst gelungen, die Ministerpräsidentin mit Hilfe
des NRW-Verfassungsgerichtshofs als „Schuldenkönigin“ hinzustellen,
belässt man es nun bei gelegentlichen Kritteleien.

CDU-Landeschef Norbert Röttgen hat als Bundesumweltminister viel
zu tun mit der Energiewende in Berlin. Sein Landtagsfraktionschef
Karl-Josef Laumann ist ein kerniger Sozialpolitiker, aber kein
vielseitiger Oppositionseinpeitscher. Mäßige Umfragezahlen schlagen
auf die Motivation der Basis, dazu drücken die Landespartei
finanzielle Probleme. In dieser Gesamtverfassung droht es sich halt
schlecht mit der schärfsten Waffe der Opposition, dem
Regierungssturz.

Fazit: Ein Jahr nach dem Start des Experiments
Minderheitsregierung ist die NRW-CDU auf Kuschelkurs, der an
vorzeitigen Neuwahlen vorbei führen soll. Damit stabilisiert sie die
Ministerpräsidentin im Amt.

Pressekontakt:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Zentralredaktion
Telefon: 0201 / 804-6528
zentralredaktion@waz.de