WAZ: Ein flexibles Europa hat zwei Seiten – Kommentar von Jasmin Fischer

Wenn der britische Premier sich als radikaler
Reformierer der Europäischen Union empfiehlt, lohnt es sich, genau
hinzuschauen. Durch die britische Linse betrachtet, liegt auf dem
Kontinent einiges im Argen: der gemeinsame Binnenmarkt etwa – eine
Perle, verkrustet durch den Kalk starrer Bürokratie.
Wettbewerbsfähiger und turbo-flexibel soll die Staatengemeinschaft
werden, die Fesseln starrer Vorschriften sprengen, den Unternehmen
Freiheit schenken. Kurzum: Die EU soll am besten so werden wie
Großbritannien.

In mancher Hinsicht mag das stimmen. Ein Gewerbe anzumelden, das
geht auf der Insel in 20 Minuten. Wer seinen Job verliert, orientiert
sich neu – und wird anderswo willkommen geheißen. Das ist die
Flexibilität, die Cameron rühmt. Das Fehlen jeder sozialen Sicherheit
ist die Kehrseite. Nichts stachelt die Konservativen so auf, wie
Vorstöße aus Brüssel, die Arbeitszeiten von Angestellten zu begrenzen
oder Zeitarbeitern ähnliche Rechte einzuräumen wie Festangestellten.
Dies sind die Direktiven, die auf der Insel bald aufgeweicht werden
sollen.

Blenden lassen von der schillernden Vision eines flexiblen Europas
sollte man sich also nicht, am allerwenigsten britische Angestellte:
Sie haben in einem Großbritannien ohne Brüssel mehr zu verlieren als
zu gewinnen. Europa hat zu Recht erkannt, dass hier ein
Mitgliedsstaat Zugang zu den Pfründen eines Binnenmarktes haben will,
sich aber vor den Verpflichtungen drückt.

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