WAZ: Hass auf die Freiheit. Leitartikel von Christopher Onkelbach

Lieber Gott, wie konntest Du das zulassen? So mögen
viele verzweifelte Gebete der entkommenen Jugendlichen und der
entsetzten Angehörigen gelautet haben. Auch der – mutmaßliche –
Massenmörder sprach vor seiner grausamen Tat zu Gott. In sein
Tagebuch trägt er ein: „Ich habe Gott erklärt, dass er dafür sorgen
muss, dass die Krieger, die für den Erhalt des Europäischen
Christentums kämpfen, obsiegen müssen.“ Ich habe Gott erklärt,
schreibt er, damit gleichsam den Gehorsam des Schöpfers einfordernd.
Beschreibt das schon den ganzen Wahnsinn, die krasse Überheblichkeit
dieses Mannes?

Es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen versuchen, die
Motive dieses mitleidentleerten Attentäters zu verstehen. Nicht, um
womöglich mildernde Umstände ans Tageslicht zu befördern, sondern um
Wiederholungen zu vermeiden. Als „Allerweltsmenschen“ beschreibt ihn
ein ehemaliger Mitschüler, Nachbarn nennen ihn freundlich und
unauffällig. Dabei ist er beseelt von Hass, Allerweltshass. Worauf?
Auf Ausländer, den Islam, die Regierung, Linke, Liberale,
Sozialdemokraten. Auf die Freiheit!

Er sieht sich als Ritter der Neuzeit, dazu ausersehen, die Welt
vor „Kulturmarxismus und Islamisierung“ zu retten. Mit den Morden an
beinahe achtzig jungen Menschen will er, so scheint es, die linke
Jugend ausrotten. Seine Gründe lassen sich auf über 1500 Seiten
nachlesen. Die abstrusen Argumente müssen analysiert und verstanden
werden, um solche Taten in Zukunft zu verhindern. Doch drängt sich
die Frage auf: Sind das tatsächlich Erklärungen? Es entsteht der
Verdacht: Das kann nicht reichen als Begründung für eine so monströse
Tat. Man darf nicht den Fehler begehen, den geständigen Massenmörder
als Irren abzustempeln, als Todesengel oder blonden Teufel. Damit
würde man die Voraussetzungen für die Morde allein einem kranken Hirn
zuschreiben. Mit seiner Verhaftung wäre das Leid zwar nicht
gelindert, doch das Böse immerhin gebannt.

Es muss mehr geben als in diesen 1500 Seiten steht. Es fällt
schwer, das jetzt zu denken, doch verbirgt sich in Breiviks Biografie
vielleicht auch ein persönliches Drama? Hätte man also die
Möglichkeit gehabt, dies zu erkennen und einzugreifen? Psychologen
fanden bei vielen Amokläufern gemeinsame Muster und Risikomerkmale.
Die Täter sind in der Regel junge Männer, sie stammen aus
unauffälligen Familien, handeln meist allein und haben ein gutes
Bildungsniveau. All dies trifft auch auf Anders Behring Breivik zu.

Oft kündigen Amokläufer ihre Taten an und machen kein Geheimnis
aus ihrer Einstellung. Es gibt demnach den typischen Amoktäter.
Warnsignale gibt es immer, nur werden sie meist nicht beachtet. Neun
Jahre hat Breivik angeblich an seinen tödlichen Plänen gearbeitet,
hat ein Tagebuch geführt und vor den Anschlägen der Welt per Twitter
erklärt, wie entschlossen er ist. Seit Jahren formuliert er auf
rechtsextremen Internetseiten seinen Hass auf den Multikulturalismus.
Er hat für seine Bombe tonnenweise Düngemittel geordert und mit
Chemikalien experimentiert. Und keiner hat etwas bemerkt? Niemand hat
auf ihn acht gegeben.

Hoffnung in all der Verzweiflung macht die Reaktion der Norweger.
„Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität“,
sagte Ministerpräsident Jens Stoltenberg. Und in seiner Trauerrede
zitiert er ein Mädchen der sozialdemokratischen Jugendbewegung: „Wenn
ein einzelner Mann so viel Hass zeigen kann, wie viel Liebe können
wir da alle gemeinsam dagegen stellen.“ Das sind große Worte.

Die unfassbare Tat ruft uns dazu auf, ein Klima des Hasses und der
Ignoranz nicht zuzulassen. Vorurteile, Gleichgültigkeit und die
Verächtlichmachung anderer sind der Humus dafür. Um eine freie
Gemeinschaft zu bewahren, ist beides nötig: Wachsamkeit und Toleranz.

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