WAZ: Lindner zur Integrationsdebatte – Die republikanische Offensive – Leitartikel von Wilhelm Klümper

Wie hat sich unsere Republik in 40 Jahren verändert.
Die 68er haben ein miefiges Deutschland kräftig durchgelüftet. Oswalt
Kolle klärte die ganze Republik auf. Die Beatles sangen „All you need
is love“, die Pille wurde erfunden und Alice Schwarzer brachte die
Frauenemanzipation auf die Bahn. Es herrschte ein Klima der offenen
Debatte, ein Klima der vermeintlich grenzenlosen geistigen Freiheit.
Dieser Diskurs schonte natürlich auch die Kirche nicht.
Schülerzeitungen machten sich über „Pillen Paul“ lustig. „Pardon“ und
„Titanic“ zogen über Papst und Bischöfe her, dass es einem den Atem
verschlug. 40 Jahre später müssen ein Karikaturist wegen einer
Mohammed-Karikatur und der Autor Salman Rushdie nach seinen
„Verbotenen Versen“ um ihr Leben fürchten. Die Oper „Idomeneo“ wurde
in Berlin aus Furcht vor islamistischem Zorn abgesetzt. Fast täglich
fordert irgendein islamischer Verbandsvertreter eine Entschuldigung,
weil Ehre und religiöse Gefühle verletzt worden seien. Dass die
ersten vor rund 40 Jahren ins Land gekommenen türkischen Gastarbeiter
einen anderen Glauben hatten als die Italiener und Spanier, fiel
zunächst niemandem so richtig auf. Muslim? Na und? Allerdings hat es
eine Minderheit von islamistischen Eiferern unter den Muslimen
verstanden, die Ansprüche ihrer Religion mehr und mehr in die
deutsche Gesellschaft zu tragen. Bei der Integrationsdebatte nehmen
Fragen des Glaubens in unserer Gesellschaft wieder raumgreifend Platz
ein. Gehört der Islam dazu oder fußt das Grundgesetz auf
christlich-jüdischem Erbe? Wohltuend, dass sich in dieser Gemengelage
der FDP-Generalsekretär Lindner mit Verve zu Wort meldet. Seines
Erachtens habe die Debatte um die Integration von Zuwanderern eine
Wende genommen, nach der religiöse Werte bedeutsamer scheinen als
republikanische. Lindner verweist zu Recht darauf, dass das
Christentum nicht deutsche Staatsreligion, sondern lediglich
persönliches Bekenntnis sei. Die Prinzipien der bürgerlichen
Verfassung seien in der Aufklärung freigelegt worden und seit der
Französischen Revolution – oft genug gegen den Widerstand der Kirchen
– erkämpft worden. Religion oder auch Nichtglauben sind hierzulande
mithin reine Privatsache. „Menschen können unabhängig von Herkunft,
Glaube und Geschlecht als Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten
am politischen Gemeinwesen teilhaben.“ Das sind die Spielregeln für
das Leben in unserer Republik. Eigentlich schlimm, dass Lindner auf
solche Selbstverständlichkeiten extra hinweisen muss.

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