WAZ: Noch ist es nicht gelaufen am Nil – Kommentar von Ulrich Reitz

Freuen wir uns mit dem ägyptischen Volk. Ein übler
Diktator weniger ist erst einmal die beste aller Nachrichten. Aber,
anders als in Deutschland im Herbst 1989, steht das Ergebnis dieser
Revolution leider noch nicht fest. Jenseits der Euphorie beginnen
bohrende Fragen. Hat wirklich das Volk Mubarak gestürzt? Oder hat das
Militär, das seit 60 Jahren regiert (Mubarak war einmal
Luftwaffen-Chef) seinen alten, unhaltbar gewordenen Repräsentanten
beseitigt, um ihn kühl zu ersetzen durch den nächsten Militär? Und
was werden die tatsächlich ja eiskalt kalkulierenden amerikanischen
und europäischen politischen Eliten tun, wenn eine neue, vielleicht
nur weniger hässliche Autokratie ihnen Stabilität verspricht und
Israel den fadenscheinigen Frieden? Der Aufstand hat bislang keinen
langen Bart. Aber weshalb sollte die größte aller organisierten
Gruppen, die Moslembrüder, sich friedlich gen Mekka wenden, wenn die
Macht neu verteilt wird? Ägyptens Bevölkerung ist mehrheitlich
ungebildet. Und bitterarm. Jeder Dritte muss von weniger als zwei
Dollar täglich leben. Eine demokratische Tradition gibt es nicht,
auch nicht so etwas wie eine Aufklärung. Schlechte Voraussetzung für
eine Demokratie von unten. Aber es gibt Hoffnung. Die Jugend will
nicht länger eine verlorene Generation sein.

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