Die Richtung stimmt
von Joerg Helge Wagner Endlich! In der bisher eher emotional als
rational geführten Zuwanderungsdebatte übt die Regierung nun die
notwendige Differenzierung – dass sie das weitgehend unter Ausschluss
der CSU tut, ist keineswegs ein Nachteil. Nun muss sich bloß noch die
Kanzlerin entscheiden, wohin sie ihre Richtlinienkompetenz lenken
will. Die grobe Orientierung, eher von den reformbereiten
Kabinettsmitgliedern als vom Kanzleramt erarbeitet, stimmt ja.
Schärfere Maßnahmen gegen jene, die hier bloß ihre
Partnergesellschaften mit öffentlichen Mitteln alimentieren wollen,
sind überfällig. Wenn der Ankündigung auch der rasche Vollzug folgt,
dürfte die unselige Debatte über fremde Kulturkreise und deren
vermeintliche genetische Dispositionen endlich einschlafen. Zeit ist
es aber auch, die Facette Fachkräftemangel bei Licht zu betrachten.
Dass die Lücke, die sich schon durch dem demographischen Wandel
stetig vergrößert, ohne gezielte Zuwanderung geschlossen werden
könnte, glaubt vor allem die Regionalpartei CSU. Das kann sie aber
nur durchhalten, wenn sie das Gespräch darüber mit in Bayern
ansässigen High-Tech-Konzernen wie Siemens oder Airbus konsequent
meidet. Parteichef Seehofer und sein Lautsprecher Dobrindt scheinen
wild entschlossen: Sie führen noch einmal die „Kinder statt
Inder“-Kampagne, mit der ein Jürgen Rüttgers schon vor zehn Jahren
keinen Erfolg im Wahlkampf hatte. In der bayrischen Variant werden
die Kinder durch deutsche (Langzeit-)Arbeitslose ersetzt, was die
Argumentation aber nicht zwingender macht. Es sind ja nicht
blauäugige Multikulti-Hohepriesterinnen wie Claudia Roth, die eine
gezielte Anwerbung ausländischer Spezialisten fordern, sondern
stocknüchterne Wirtschaftsvertreter. 36
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Zehntausende nicht-akademische Fachkräfte. Bei den Pflegekräften etwa
ist die Zahl der offenen Stellen deutlich höher als die Zahl
arbeitslos gemeldeter examinierter Profis. Die raschere Anerkennung
ausländischer Abschlüsse liegt also nahe, wenn unser Wirtschafts- und
Sozialsystem nicht bald auf Reserve laufen soll. Selbst qualifizierte
Langzeitarbeitslose, die seit mehr als einen Jahr – zum Teil deutlich
länger – nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet haben, können den
sofortigen Bedarf nicht decken. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass
ein Viertel von ihnen gesundheitliche Einschränkungen aufweist. Und
was spricht gegen eine gesteuerte Zuwanderung nach einem strikten
Punktesystem, wie es Kanada und andere Staaten seit Jahrzehnten
erfolgreich anwenden? Dadurch ist dort statt der Arbeitslosigkeit
bloß das Wirtschaftswachstum gestiegen. Das konservative Mantra
„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ trifft ja auf eine verquere
Weise zu: Qualifizierte junge Deutsche – nicht nur Ärzte – suchen
zunehmend ihr Glück im Ausland, während qualifizierte Ausländer
entweder erst gar nicht her kommen oder von der hiesigen
Bildungsbürokratie allzu oft zum Taxifahren verurteilt werden. Das
will die Regierung nun ändern. Aber sie sollte die Wirtschaft nicht
aus der Verantwortung entlassen. Das wachsende weibliche Potenzial an
Fachkräften etwa – ob nun deutscher oder ausländischer Herkunft –
lässt sich nur ausschöpfen, wenn die Unternehmen familienfreundlicher
werden. Das würde übrigens auch den demographischen Wandel mildern –
siehe Frankreich. Das Wehklagen von Arbeitgeberpräsident Hundt über
die Kosten eines moderat erweiterten Mutterschutzes wirkt da genauso
altbacken wie die christsoziale Angst vor kultureller Überfremdung.
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