Westdeutsche Zeitung: Das lange Warten auf eine handlungsfähige Regierung – Das große schwarz-rote Misstrauen Ein Kommentar von Anja Clemens-Smicek

Liefert endlich! Nach zwei Monaten des
gefährlichen Schwebezustandes wird es Zeit, dass das Land eine neue
Regierung bekommt. Wobei die große Frage sein wird, ob diese sich
jemals wirklich handlungsfähig zeigt. Denn sollte es dem Trio Merkel,
Seehofer und Gabriel tatsächlich gelingen, eine große Koalition zu
schmieden, hat sie das Attribut echte „Liebesheirat“ nicht verdient.

Erschien die große Koalition im September noch als gangbarer Weg,
so haben die Verhandlungen die tiefen Gräben und das große
gegenseitige Misstrauen offenbart. Eine weitere schwere Hypothek für
den schwarz-roten Ehevertrag ist die Aussicht auf Schwarz-Grün in
Hessen. Umso fraglicher ist es, ob eine auf dem kleinsten gemeinsamen
Nenner gründende Regierung den Herausforderungen gewachsen ist – von
der Eurokrise, über die Energiewende bis hin zum demografischen
Wandel. Ihre überwältigende Mehrheit im Bundestag würde die große
Koalition aber dazu verpflichten, über den Tellerrand einer
Legislaturperiode hinauszusehen.

Die CDU geht mit ihrer großzügigen Kompromissbereitschaft ein
hohes Risiko ein. Die Alpha-Frau Merkel lässt sich von der SPD-Basis
als Geisel nehmen. Außer verhinderten Steuererhöhungen kann sie ihren
Wählern nichts bieten – während sich die SPD über Mindestlohn,
Frauenquote und doppelte Staatsbürgerschaft freut. Viele werden sich
fragen, warum sie die CDU gewählt haben, wenn sie dann nach
sozialdemokratischen Spielregeln agiert. Und die SPD? Mit ihrem
Entschluss, sich einem Linksbündnis nicht mehr zu verschließen,
verprellt sie nicht nur den rechten Parteiflügel. Die bloße
Perspektive könnte bei Neuwahlen zum Debakel führen.

Ein Gespür für die Befindlichkeiten der Wähler scheint nur der
kraftstrotzende Mann aus Bayern zu haben. Seehofer hat erkannt, dass
mit AfD und FDP zwei Parteien scheiterten, die zusammen zehn Prozent
der Wählerschaft ausmachen – Wähler, die eine bürgerliche Mitte
wollen, sie aber in den etablierten Parteien nicht finden. Deshalb
ist es ein cleverer Schachzug Seehofers, den Euro-Skeptiker Gauweiler
zurückzuholen. Union und SPD pokern hoch für eine Beteiligung an der
Macht. Die Quittung bekommen sie sicher schon bei der Europawahl.

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