Westdeutsche Zeitung: Das Urteil zur Sterbehilfe sollte ein neuer Denkanstoß sein – Mit einer Patientenverfügung vorsorgen Von Peter Kurz =

Ein Anwalt rät der Tochter einer 71-jährigen
Wachkomapatientin, den Schlauch zu deren Magensonde zu durchtrennen.
Die Tochter und der Anwalt werden freigesprochen. Sind jetzt alle
Dämme gebrochen? Kann nun niemand mehr darauf zählen, in hilflosem
Zustand jede erdenkliche ärztliche Hilfe zu bekommen? Ist seit
gestern gar die aktive Sterbehilfe erlaubt? Die Antwort auf alle drei
Fragen lautet nein. Und: Das Urteil des Bundesgerichtshofes ist
richtig. Denn in dem jetzt entschiedenen Fall wurde nur dem Willen
der Patientin entsprochen. Diese hatte in Zeiten, in denen sie noch
bei Bewusstsein war, den Wunsch geäußert, in einer entsprechenden
Situation nicht weiterbehandelt zu werden. Nicht das Unterlassen der
Weiterbehandlung ist in einer solchen Situation der Rechtsbruch,
sondern deren Fortsetzen – etwa durch künstliche Beatmung oder
Ernährung. Strafrechtlich ist dies Körperverletzung ohne
Einwilligung.

Durch das im Herbst 2009 in Kraft getretene Gesetz zur
Patientenverfügung wurde der Vorrang des Patientenwillens
ausdrücklich geregelt. Was zivilrechtlich erlaubt ist, kann nicht
gleichzeitig für die Handelnden mit Strafe bedroht sein. Das
Durchschneiden eines Versorgungsschlauches ist in einem solchen Fall
keine verbotene aktive Sterbehilfe. Das zeigt ein Vergleich mit einer
anderen Fallkonstellation: dem erlaubten Abschalten eines
Beatmungsgerätes entsprechend einem zuvor geäußerten Willen des
Patienten. Wenn dies ein zulässiges Unterlassen weiterer
Hilfsmaßnahmen ist, kann für den Abbruch der Ernährung nichts anderes
gelten.

Der Knackpunkt des Falles liegt darin, dass der von der Patientin
geäußerte Wille zum Abbruch der Behandlung nur mündlich von Zeugen
überliefert war. Rechtlich zählt das zwar genauso viel wie eine
schriftliche Patientenverfügung, birgt aber immer die Gefahr von
Auslegungsschwierigkeiten.

Der Fall ist eine weitere Mahnung, mit möglichst eindeutiger
schriftlicher Patientenverfügung beizeiten sein Schicksal selbst in
die Hand zu nehmen. Nur so erspart man den Angehörigen eine schwer
auszuhaltende Krise. Denn ohne Patientenverfügung wird ihnen
aufgebürdet, die Entscheidung über Leben und Tod mitzutragen –
gestützt auf vielleicht mehrdeutige Äußerungen.

Pressekontakt:
Westdeutsche Zeitung
Nachrichtenredaktion
Telefon: 0211 / 8382-2370
redaktion.nachrichten@westdeutsche-zeitung.de