Westdeutsche Zeitung: Die Harmonie zwischen Union und SPD wird nur kurz währen – Zwischen Reißwolf und Ruppigkeiten Ein Kommentar von Martin Vogler

Die Einigung auf einen Koalitionsvertrag hat
klare Vorteile: Endlich kann die unschöne Phase mit einem weiter im
Amt befindlichen Kabinett und einem fast paralysierten neuen
Bundestag zu Ende gehen. Die dritte große Koalition in Deutschland
entspräche zumindest im Grundsatz, wenn auch nicht unbedingt von den
Inhalten her, dem Wählerwillen. Für Union und SPD ist wichtig, dass
sie jeweils ihr Gesicht wahren. Die zusätzlichen Kosten für die Pläne
der Koalitionäre sind mit 23 Milliarden Euro zwar happig, doch
gemessen an den diskutierten 65 Milliarden mag man das gnädig finden
– es gibt folglich auch keinen Grund für Steuererhöhungen. Besonders
gut wäre es, wieder eine handlungsfähige Regierung zu haben.

Der unerfreulichste Aspekt ist, dass der Vertrag eventuell in den
Reißwolf muss, falls ihn die SPD-Mitglieder ablehnen. Dann würde am
14. Dezember alles wieder auf Null gestellt. Die deutsche Politik
hätte drei wichtige Monate verloren. Koalitionsgespräche in neuen
Konstellationen, etwa zwischen Union und Grünen, müssten beginnen.
Die Linkspartei würde sich der SPD erneut als Partner anbieten.
Neuwahl wäre wieder ein Thema. Schlimme Perspektiven, weil noch mehr
Zeit für konkrete Arbeit verloren ginge.

Schuld an diesem Dilemma ist die Idee der SPD-Führung, sich bei
den Mitgliedern den Segen für die große Koalition zu holen. Der
Schritt ist aber nachvollziehbar, denn die Genossen wissen aus
Erfahrung, dass sie aus solch einem Bündnis ziemlich gerupft
herauskommen können. Dennoch mutet es sonderbar an, dass jetzt nicht
einmal eine halbe Million SPD-Mitglieder darüber entscheiden, wie der
Wille aller Wähler wirklich zu interpretieren ist.

Inhaltlich überrascht nicht, dass sich alle als Sieger fühlen. Bei
der Wirtschaftspolitik kann mit diesem Vertrag die Union für
Kontinuität sorgen, ob sie sich über ihren Sieg bei der Pkw-Maut am
Ende wirklich freut, ist abzuwarten. Die SPD erwies sich etwa beim
Mindestlohn oder bei der doppelten Staatsbürgerschaft als stärker.
Auch wenn sich beide Seiten als Gewinner feiern lassen, hat die SPD –
wenn man ihr schlechtes Wahlergebnis bewertet – einen Punktsieg
errungen. Sie setzte ihre Positionen deshalb durch, weil sie stets
mit der möglichen Ablehnung ihrer Mitglieder drohen konnte.
Allerdings könnte sich der Punktsieg schmerzhaft ins Gegenteil
kehren. Wenn der Mitgliederentscheid negativ ausfällt, muss die
Führung der Genossen aufs Altenteil gehen.

Doch selbst bei einem positiven Votum wird es ruppig: Auch wenn
die Koalitionspartner jetzt Harmonie vorspielen, Angela Merkel und
die Spitzenleute der Union wissen genau, dass sie ein Stück über den
Tisch gezogen wurden. Und speziell die Kanzlerin kann sehr
nachtragend sein.

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