Westdeutsche Zeitung: Gestern konnte Peer Steinbrück überraschend punkten – Der Agile und die Stoische Ein Kommentar von Martin Vogler

Wer geglaubt hatte, Peer Steinbrück hätte den
Kampf ums Kanzleramt schon aufgegeben, musste sich gestern eines
Besseren belehren lassen. Denn auch wenn die Umfragen für den
SPD-Spitzenkandidaten gegenüber Kanzlerin Angela Merkel verheerend
ausfallen, lassen die Prognosen für die Parteien selbst so gut wie
alles offen. Und nur auf die kommt es an. Warum sollte Steinbrück
also jetzt schon die Flinte ins Korn werfen, wie es Viele nach seinem
oft als unglücklich – von anderen auch als sehr ehrlich – empfundenen
Talkauftritt mit seiner Ehefrau vermutet hatten.

Gestern, beim letzten großen Schlagabtausch im Bundestag vor der
Wahl, konnte Steinbrück punkten und zeigte bei diesem inoffiziellen
Wahlkampf-Auftakt, dass politische Auseinandersetzung ganz schön
lebhaft und unterhaltsam sein kann. Er suchte geschickt
Schwachstellen der Regierung bei populären Themen wie
Arbeitslosigkeit, speziell auch bei Jugendlichen, die er in engem
Zusammenhang mit der Merkel–schen Sparpolitik in Europa setze.
Gleichzeitig warf er ihr fürs Inland das Gegenteil von Sparen vor:
100 Milliarden neue Schulden plus Wahlversprechen, deren Umsetzung
noch mal 50 Milliarden kosten würden. Steinbrück hat begriffen, dass
sogenannte Wahlgeschenke kaum jemand noch jubelnd aufnimmt. Die
Menschen wissen: Das kostet Geld, und nach der Wahl sieht es sowieso
anders aus.

Punkten konnte Steinbrück sogar mir ungewohnter Ironie, als er
eine Anekdote aus der Adenauer-Ära aufwärmte. Mit dem – nicht
existierenden Wort – „reziplikativ“ als Charakterisierung für Merkels
vorherige Regierungserklärung erzeugte er gewollt Aufmerksamkeit.

Und die Kanzlerin? Die gab sich stoisch. Falls der plötzlich agile
Mitbewerber sie irritiert haben sollte, ließ sie es sich zumindest
nicht anmerken. Sie blieb präsidial, zeigte, dass ihr etwa die Idee
eines europäischen Solidaritätsfonds wichtiger als ein
Wahlkampfscharmützel ist. Aufgrund ihrer riesigen Popularität ist das
für sie der richtige Weg. Wenn Steinbrück seine Chance nutzen will,
bleibt ihm aber nichts anderes übrig, als so wie gestern weiter
anzugreifen und an Charisma und Überzeugungskraft zuzulegen. Trotzdem
wird er es so schwer wie kaum ein Herausforderer vor ihm haben.

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