Westdeutsche Zeitung: Harte Kritik von Ex-Kanzler und Bundespräsident = von Martin Vogler

Bürger dreschen schon mal gerne auf Politiker
ein, halten sie pauschal für unfähig, überbezahlt und faul. Und
natürlich wüssten sie gleichzeitig ganz genau, wie alles besser zu
machen wäre, können sich aber nicht überwinden, selbst Verantwortung
zu übernehmen. Das ist nicht fair, aber vielleicht gutes Recht der
Menschen. Zumal derzeit viele Politiker in der Tat große
Angriffsflächen bieten.

Eine neue Dimension tut sich auf, wenn Politiker in exponierten
Rollen, auch oder gerade wenn sie dem Alltagsgeschäft entwachsen
sind, in gleicher Manier loslegen. Helmut Kohl hat das gestern
schonungslos getan. Ein wenig bekam die einstige rot-grüne Koalition
ihr Fett weg. Vor allem schonte er die jetzige Regierung nicht. Den
außenpolitischen Bedeutungsverlust Deutschlands derart harsch zu
beklagen und den Machern Führungs- und Gestaltungswillen
abzusprechen, ist schlicht brutal.

Es wäre leicht, Kohls Rücksichtslosigkeit mit der Verbitterung
eines gealterten Ex-Kanzlers, der sich nicht mehr genug hofiert
fühlt, abzutun. Dieser Faktor spielt sicherlich bei der Härte
einzelner Formulierungen eine Rolle. Doch im Grunde seines Herzens
dürfte Helmut Kohl echte Sorge um die Zukunft Deutschlands umtreiben.
Fazit: inhaltlich verständlich, taktisch und menschlich schlecht.

Mit der gestrigen Kritik Christian Wulffs verhält es sich etwas
anders. Der Bundespräsident, der bislang weder durch ökonomischen
Sachverstand noch durch visionäre Gedanken besonders auffiel, hat
urplötzlich entdeckt, dass er sich mit dem Thema Währungsunion
profilieren könnte. Vor Nobelpreisträgern verbreitete er entweder
Altbekanntes – oder versuchte mit populären Thesen die Ängste der
Menschen zu bedienen. Leider hilft er den Bürgern damit kein bisschen
weiter, sondern steigert nur deren Verunsicherung.

Besonders fatal an Kohls und Wulffs Kritik ist, dass beide – auch
wenn sie aus unterschiedlichen Motiven handeln – das gleiche Ziel
erreichen: Die Politikverdrossenheit wächst, wenn selbst oberste
Repräsentanten so plump auf Politiker einschlagen. Somit sinken auch
die Chancen, künftig kluge Köpfe als Gestalter unserer Zukunft zu
gewinnen. Kohl und Wulff hätten besser geschwiegen – oder zumindest
ihre Formulierungen besser abgewogen.

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