Nach dem Rücktritt-Jubels warten komplizierte
Aufgaben Ägypten braucht Glück und unsere Hilfe
Martin Vogler
martin.vogler@wz-plus.de Möglicherweise werden wir nie erfahren,
warum sich Mubarak doch zum Rücktritt durchrang – oder wer ihn mit
welchen Mitteln dazu trieb. Sicher ist nur, dass sein Schritt nichts
mit tieferer Einsicht zu tun hat. Denn noch am Abend zuvor hatte der
ägyptische Präsident bei seiner Ansprache starrsinnig gewirkt. Er
hatte damit bewiesen, wie erschreckend wenig Ahnung er von der wahren
Stimmung im Volk hat. Ein Entfremdungs-Dilemma, das irgendwann bei
allen Herrschern eintritt, die jahrzehntelang selbstherrlich regieren
und nur geschönte Informationen von ihrem Hofstaat bekommen.
Zumindest war das gestrige Drehbuch so konzipiert, dass Mubarak
einen Rest von Würde bewahren konnte. Erst zog er sich in seine
Sommerresidenz zurück, dann ließ er seinen Rücktritt von seinem
Stellvertreter verkünden. Somit bleibt ihm die demütigende Flucht ins
ausländische Exil erspart. Vorläufig zumindest.
Wichtiger als die Frage nach Mubaraks Motiv ist das Ergebnis:
Jetzt können wir hoffen, dass weitere blutige Ausschreitungen
ausbleiben und Ägypten nicht, wie es viele Experten befürchteten, in
einen Bürgerkrieg schlittert. Das Land hat die Chance, zu einer
echten Demokratie zu werden. Viel Glück und Erfolg dafür!
Auf dem Weg dorthin gibt es allerdings hohe Hürden. Die erste
wichtige Frage ist, was das Militär mit seiner enorm gewachsenen
Macht anfängt? Die Gefahr, dass sich Generäle an diesen Zustand
gewöhnen und eine neue Diktatur etablieren, ist angesichts der großen
Volksnähe der Streikräfte hoffentlich gering. Es gibt auch kaum eine
Alternative zu einer vorübergehend starken Rolle des Militärs. Denn
die Menschen müssen sich erst an Demokratie gewöhnen, sich
informieren, Meinungen bilden, neue Parteien gründen, Kandidaten
aufstellen und dann eine gute Wahl treffen.
Bei diesem beschwerlichen Weg kann und muss der Westen
verständnisvoll helfen. Das haben die Menschen in Ägypten verdient.
Er muss es aber auch im eigenen Interesse tun: Die gesamte Region ist
wirtschaftlich und militärisch enorm wichtig, ein Erstarken radikaler
Islamisten wäre fatal, und die Situation könnte für Israel bedrohlich
bis unhaltbar werden. Amerika und Europa müssen und werden deshalb
unterstützend tätig sein. Aber bitte mit Augenmaß und ohne
Besserwisserei.
Martin Vogler
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