Westdeutsche Zeitung: Rekordwachstum mit Schönheitsfehlern = von Lothar Leuschen

Der kräftigste Aufschwung seit der
Wiedervereinigung Deutschlands ist wahrlich ein Grund zur Freude. Er
gibt zum Jubeln Anlass, weil die Parameter in den vergangenen Jahren
kaum Wachstum versprachen. Finanzkrise, Eurokrise, Wirtschaftskrise,
Absatzkrise – das waren zu Beginn und im Laufe des zurückliegenden
Jahres Worte, welche die Schlagzeilen bestimmten. Umso
bemerkenswerter ist die Leistung, die Arbeitnehmer, Arbeitgeber und
Politik durch Fleiß und kluge Entscheidungen im Jahr 2010 vollbracht
haben. 3,6 Prozent Wachstum gegenüber 2009 – das ist schon was. Es
besagt, dass Made in Germany nichts von seiner Anziehungskraft
eingebüßt hat. Dieser Bonus ist allerdings auch ein Malus. Denn wer
das Haar in der so schmackhaften Suppe sucht, der wird leicht fündig.
Ja, Deutschland hat ein atemberaubendes Wachstum, doch es fußt fast
nur auf dem Export. Was aber geschieht, wenn noch mehr Staaten in
Europa in eine Finanzkrise geraten? Was wird, wenn etwa Frankreich
als guter Kunde der deutschen Wirtschaft ausfällt? Wie wirkt es sich
aus, wenn die USA dauerhaft nicht wieder auf die Beine kommen? Hat
Deutschland dem genug entgegenzusetzen? Wahrscheinlich nicht. Denn
die Binnennachfrage ist – verglichen mit dem Export – immer noch viel
zu schwach. Die Zahl der Arbeitslosen ist zwar erfreulich gesunken,
weil es nie mehr Arbeitsverhältnisse gab als heute. Doch das liegt
auch am höheren Anteil der Minijobs. Andererseits sinkt die Zahl
derer nicht, die auf Transferleistungen des Staates angewiesen sind.
Und wer in Lohn und Brot steht, wird etwa durch höhere
Krankenkassenbeiträge und höhere Energiekosten belastet. Das mindert
die Kauflust. Dass Wirtschaftsminister Rainer Brüderle in diesen
Tagen gar nicht zu lächeln aufhören kann, sei ihm gegönnt. Aber
ausruhen darf er sich auf dem um 3,6 Prozent höheren
Bruttoinlandsprodukt nicht. Dafür war das Vergleichsjahr 2009 zu
schlecht. Deutschland braucht mehr Konsum, weniger Steuern, mehr
Arbeitsplätze, weniger Hartz-IV-Empfänger. Und der Abbau der
horrenden Staatsschulden ist ohnehin ein Gebot der Stunde. Es gibt
viel zu tun. Brüderle und Kollegen haben keine Zeit, den Aufschwung
zu feiern.

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