Westdeutsche Zeitung: Sarrazin = von Martin Vogler

Kaum ein Buch hat bislang schon vor seinem
Erscheinen so viele Rezensionen gesammelt wie Thilo Sarrazins
„Deutschland schafft sich ab“. Wohlgemerkt: Erst heute wird das Werk
in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Und schon haben sich
zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und bedeutende Politiker dazu
geäußert. Rein marketingtechnisch gesehen haben somit das gerne
provozierende SPD-Mitglied und sein Verlag einen Volltreffer
gelandet. Und dabei genießt Sarrazin offenbar sogar die
herabprasselnde Kritik, indem er zum Beispiel am Wochenende dreist
die Bundeskanzlerin als seine beste Verkaufsförderin titulierte. Doch
genau das ist der wunde Punkt. Die Stimmen, die gegen Sarrazins
Thesen laut werden, sind sicherlich überwiegend von ehrlicher Sorge
getrieben, dass hier jemand rassistische Vorurteile bedienen will.
Allerdings lässt sich auch des Autors Verwunderung nachvollziehen, ob
diese Mahner wirklich schon jetzt alle 464 Seiten gelesen und
durchdacht haben. Vorveröffentlichungen und Zusammenfassungen reichen
nämlich bei solch komplexen Themen nicht unbedingt aus. Die
Sarrazin-Kritiker laufen folglich Gefahr, ihm in einem vorschnellen
Reflex zu antworten. Ihnen muss klar sein: Das macht sie ebenfalls
angreifbar – und erhöht eben den Effekt der ungewollten
Öffentlichkeitsarbeit für das Buch. Auch wenn es, vor allem nach den
jüngsten Äußerungen über Gene und Juden, die besonders in Deutschland
schwer erträglich sind, den Kritikern schwer fällt: Ausschließlich
eine sehr sachliche Debatte hilft weiter. Alles andere wertet
Sarrazin zu sehr auf. Ihn gar aus seinem Amt zu verjagen, aus der SPD
auszuschließen und ihn in geistige Nähe zur NPD zu rücken, ist
gefährlich. So entstehen Legenden und Märtyrer. Sachlichkeit ist aus
einem weiteren Grund oberstes Gebot. Die von Sarrazin angesprochenen
Themen sind nicht nur sensibel, sondern durchaus entscheidend für die
Zukunft. Denn auch wenn die meisten aufgeklärten Bürger seine
Aussagen für politisch unkorrekt halten, dürfen wir die Probleme
nicht schönreden: Vor allem bei der Integration ist in Deutschland
sehr viel im Argen. Das auszusprechen, ist in Ordnung und sogar
wichtig. Es so polemisch wie Sarrazin zu tun, hingegen nicht.

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