Westdeutsche Zeitung: Tage, an denen die Geschichte Mut verlangt = von Werner Kolhoff

Wer die Reihen der Soldatengräber an der Küste
der Normandie sieht, wer sich das Gemetzel dort unten am Strand nur
für eine Sekunde vorstellt, der kann nicht ohne eine Schlussfolgerung
für sich selbst bleiben. Es ist zu hoffen, dass der Ort den Geist
prägen wird, wenn sich dort Putin, Obama, Merkel und Poroschenko zum
ersten Mal seit der Krim-Annexion durch Russland treffen werden, um
des 70. Jahrestages der alliierten Invasion zu gedenken. Es ist ja
nicht nur der Schauplatz des ruhmreichsten Kapitels
europäisch-amerikanischer Freundschaft, sondern auch des gemeinsamen
– auch mit Russland gemeinsamen – Triumphes über Hitler. Vielleicht
dämmert es Putin heute an der Kanalküste, dass die USA Europa und
auch seinem Land einst in Waffenbrüderschaft verbunden waren, um
Hitler zu beseitigen und dem Kontinent Freiheit und Wohlstand zu
bringen. Vor allem aber muss die Erinnerung an den Juni 1944 allen
Beteiligten bewusst machen, welche Wucht ein Krieg heute hätte. Der
muss um jeden Preis vermieden werden. Und welche Wucht sogar schon
die zivile Vorform eines Wirtschaftskrieges auf das heutige vernetzte
Leben hätte. Auch der muss vermieden werden. Mit Russland kann es
sicher keine Verständigung geben, wenn es sein Ziel sein sollte, die
Ukraine dauerhaft zu destabilisieren oder gar ein „Neurussland“ im
Süden und Osten abzuspalten. Diese Ära der Landverschiebungen durch
Generäle ist am 6. Juni 1944 untergegangen wie der deutsche
Atlantikwall. Worum es geht, ist Deeskalation im Bürgerkrieg, durch
Entwaffnung der Separatisten, und dann im zweiten Schritt ein
Kompromiss, der die Lage in der gesamten Region stabilisiert, ohne
sie schon endgültig zu entscheiden. Das schließt eine volle EU- und
erst recht Nato-Mitgliedschaft der Länder der östlichen Partnerschaft
für lange Zeit aus – so lange, bis auch in Moskau demokratische
Verhältnisse herrschen und der nationale Chauvinismus sich wieder
gelegt hat. Geschichte, das ist die Botschaft des D-Day, verlangt
manchmal den Mut einzelner an einem einzigen Tag an einem einzigen
Ort. Hoffentlich bringen ihn 70 Jahre später in der Normandie auch
die Staatenlenker auf.

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