Westfalen-Blatt: Da WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Jahreswechsel

Was war das nun für ein Jahr, dieses 2017? Was
bleibt, was wirkt nach und was kommt 2018 auf uns zu? Schaut man auf
die ökonomischen Kennzahlen, geht es Deutschland weiter sehr gut: Die
Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, längst gilt der
Fachkräftemangel in vielen Branchen als das größte Problem. Noch vor
zehn Jahren hätten wir uns eine solche Situation wohl erträumt.

Doch sagen Beschäftigungsquoten und Wachstumsraten allein wenig
über das Glück und die Zufriedenheit einer Gesellschaft aus. Für die
ganz persönliche Bilanz eines jeden Einzelnen können sie erst recht
nicht als Gradmesser gelten. Und richtig ist auch: Wer in großer Höhe
unterwegs ist, für den geht es in die meisten Richtungen bergab.
Insofern klingt es durchaus plausibel, wenn Zukunftsforscher Horst
Opaschowski die Sorge der Deutschen, dass im kommenden Jahr alles
schlimmer werde, mit dem erreichten Wohlstandsniveau in Verbindung
bringt und von einem »Unzufriedenheitsparadox« spricht.

Dabei darf und sollte man sich erst einmal freuen über die
Tatsache, dass es um unser Land gegenwärtig so gut bestellt ist. Und
man darf und sollte es auch sagen. Gern sogar laut! Genauso richtig
ist allerdings, dass zur Selbstgefälligkeit keinerlei Anlass besteht.
Denn es geht längst nicht allen Menschen gut. Sozialverbände,
karitative Organisationen, Suppenküchen und Tafeln berichten
regelmäßig davon, dass es um die Verteilung des Wohlstands in
Deutschland leider nicht zum Besten bestellt ist.

Gewiss: Ungleichheit ist eine wichtige Antriebsfeder für das
individuelle wie für das gemeinschaftliche Vorankommen. Und was
gleich ist, muss noch lange nicht gerecht sein. Doch birgt ein zu
großes Maß an Ungleichheit enorme Sprengkraft. Auch davon gaben die
vergangenen zwölf Monate samt der Wahlergebnisse eine Ahnung.
Millionengehälter, Selbstbedienungs- und Ellenbogenmentalität hier,
das Gefühl des Abgehängtseins, Frust und Selbstaufgabe dort. Es ist
unübersehbar: Die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft sind groß. Der
Zusammenhalt ist von unschätzbarem Wert, aber er organisiert sich
nicht von allein. Wir alle sind aufgefordert, etwas dafür zu tun,
dass er erhalten bleibt. Gefragt ist zugleich eine kluge
Sozialpolitik, die da hilft, wo wirkliche Not ist, anstatt Wohltaten
mit der Gießkanne zu verteilen – wie in der Vergangenheit viel zu oft
geschehen.

Aus internationaler Sicht muss Deutschland weiter wie eine Insel
der Glückseligen wirken. Doch unser Land ist keine Insel – und wird
deshalb auch weiter für viele Menschen ein Sehnsuchtsort bleiben.
Immer stärker zeigt sich, welche Mammutaufgabe sich hinter dem
Stichwort »Integration« verbirgt. Und dass es dabei oft nur in
Millimeterschritten vorangeht. Oder gar nicht – wie die EU auf
bedrückende Art und Weise beweist. Nein, ihrem Namen »Gemeinschaft«
werden die Europäer hier nicht gerecht.

Dabei ist offenkundig: Allein wird kein Land die Probleme lösen
können. Digitalisierung und Globalisierung fordern ihren Preis: Die
Welt ist ein Dorf geworden, und wir profitieren in vielerlei Hinsicht
von dieser Entwicklung. Doch fällt es uns schwer, im gleichen Maß die
Verantwortung zu tragen, die aus dieser weltumspannenden
Schicksalsgemeinschaft erwächst. Hunger, Kriege, Klimawandel – das
alles klingt weit weg und kommt uns doch nah. Es ist eben nicht bloß
eine Frage der Humanität, dass wir vor Ort mehr helfen müssen. Wenn
wir die Flüchtlingsströme dauerhaft begrenzen möchten, ist es
schlicht auch eine Frage des Eigennutzes. Also, auf was warten wir
noch: Die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit müssen rauf.
Wie übrigens auch die für den Verteidigungsetat, auch wenn das in der
Öffentlichkeit kaum jemand hören möchte.

Ja, die Wahrheit ist oft hart und sie ist unbequem. Doch
politische Korrektheit hilft nicht weiter. Zur Wahrheit gehört
übrigens auch, dass es für viele Fragen unserer Zeit keine einfachen
Lösungen gibt. Die Welt mag schnelllebiger geworden sein, die
schnellste Antwort aber ist nicht immer die beste. Dass die
Vereinfacher trotzdem 2017 Hochkonjunktur hatten, ist ein
alarmierender Befund. Er sollte alle aufrütteln, die in Politik und
Gesellschaft Verantwortung tragen. Uns Medien eingeschlossen.
Hinhören und zuhören, selbstkritisch bleiben oder es wieder werden –
auch das muss ein Gebot der Stunde sein.

Unsere Republik hat in diesem Jahr ihr Gesicht verändert. Die
politische Landschaft ist unübersichtlicher geworden, die Zahl der
Akteure gestiegen. Wir müssen uns wohl an den Gedanken gewöhnen, dass
es schwerer wird, Mehrheiten zu organisieren. Womöglich ist die
schleppende Regierungsbildung in Berlin nur ein Abbild unser immer
stärker individualisierten Gesellschaft. Doch die Demokratie fordert
den Kompromiss. Ein Gedeihen kann es nur geben, wo Gemeinwohl und
Eigeninteressen austariert werden. Es wird Zeit, dass das auch die
Politiker und Parteien begreifen, die zuletzt arg mit sich selbst
beschäftigt waren.

Denn es gibt mehr als genug zu tun. Die Herausforderungen sind
gewaltig, und die Zukunft wartet nicht auf uns. Wir müssen sie
gestalten. Das Zeug dazu haben wir allemal. Also: Packen wir es
gemeinsam an!

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Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
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