Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Cameron auf dem EU-Gipfel

David Cameron ist ein Gentleman. Er wird beim
Gipfel freundlich mit »Dear Angela« plaudern und staatsmännisch die
Notwendigkeit zur Lösung der Euro-Krise betonen. Doch zugleich wird
der britische Premier der größte Bremser in Brüssel sein. Eine
Änderung der Europäischen Verträge, die auch das Nicht-Euro-Land
Großbritannien an die Schuldenkette legen würde, wäre für Cameron
eine politische Katastrophe. Cameron ist der Anti-Merkozy.
Großbritannien steckt tief in der Krise. Die Staatsverschuldung
explodiert, das radikale Sparprogramm zur Eindämmung des Defizits
treibt die Bürger zu Massenprotesten auf die Straße. Jeder Fünfte
unter 25 ist arbeitslos. Eine Industrie, die diesen Namen verdienen
würde, gibt es nicht mehr. Die Gesundheitsversorgung ist legendär
schlecht, die staatlichen Renten sind gering. Der angekündigte
Sanierungsplan mit Null-Neuverschuldung im Jahr 2015 ist längst
Makulatur. Dazu müsste die britische Wirtschaft jährlich um 2,5 bis
drei Prozent wachsen. Realistisch ist maximal ein Prozent – und das
bei fünf Prozent Inflation. Der englische Patient liegt im Siechtum,
einzig am Leben gehalten vom pulsierenden Finanzzentrum London, wo
Hedgefonds und Investmentfirmen weiter zocken, als hätte es den Fall
Lehman Brothers nie gegeben. Immerhin: Noch wird dort Geld verdient.
Jegliche Regulierung des Finanzmarkts gilt den Briten deshalb als
Teufelszeug. Schon Wochen vor dem Gipfel hat Cameron deshalb wissen
lassen, was er von einer verschärften Bankenaufsicht hält: gar
nichts. EU-weite Finanztransaktionssteuer? Kommt nicht in Frage.
Europäische Bankenaufsicht? Lieber doch nicht. Der britischen
Öffentlichkeit wie der europäischen Politik teilte er erst am
Mittwoch in einem Gastbeitrag für die »Times« mit, welche Rolle er
beim Euro-Rettungsgipfel zu spielen gedenkt: »Ja zu
Vertragsänderungen – aber nur zu unseren Bedingungen.« Der Chef der
konservativen Partei kann dabei geschickt die Anti-Europäer in seiner
Partei als Schützenhilfe aufmarschieren lassen. Immerhin 80
Abgeordnete verlangten erst vor kurzer Zeit eine Volksabstimmung über
den Austritt aus der EU. Leicht ließen sich weitere Brüssel-Hasser
unter den traditionell EU-skeptischen Briten aufstacheln. Ein
Austritt Großbritanniens aber könnte den Bestand der Gemeinschaft
insgesamt infrage stellen und einen Dominoeffekt auslösen. Allein
eine Debatte über diesen Schritt wäre verheerend. Kanzlerin Angela
Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy werden sich Camerons
Forderungen also wohl oder übel beugen müssen. Das Maximalziel – eine
Neuregelung der EU-Verträge für alle 27 Mitgliedsländer mit strenger
Aufsicht aus Brüssel – ist kaum mehr zu erreichen. »Rettet den
Euro!«, lautet die Parole der Stunde. Von der europäischen Idee ist
vorerst keine Rede mehr.

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