Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu China

Wie sich die Fälle gleichen: Vor einem Jahr hat
sich der junge Tunesier Mohamed Bouazizi selbst verbrannt, als die
Behörden seinen Obststand und damit seine Existenz vernichteten. Im
Süden Chinas sticht der Gemüsehändler Cai Yingjie einen Blockwart
nieder, als der Hand an seinen Obstkarren legt. Cai, der Mann mit dem
Melonenmesser, wird schnell zum inoffiziellen Volkshelden. Ein
Amtsrichter verurteilt ihn zum Tod.

Die Behördenwillkür gegen den Nordafrikaner elektrisierte 2011 die
Massen und führte zum arabischen Frühling. Die Drangsalierung des
rechtlosen, bis zum Äußersten getriebenen Chinesen, ein Vorgang unter
tausenden, blieb dagegen ohne Folgen. Der Fall des Melonenhändlers
liegt bereits fünf Jahre zurück, hat in China aber nichts bewirkt.

Die jüngsten schweren Unruhen in der Boom-Provinz Guangdong stehen
für ein wachsendes Problem, das China nicht in den Griff bekommen
kann, weil sein System auf Unrecht und Ausbeutung baut. Allein 2010
soll es zu 180 000 Zwischenfällen von der aufmüpfigen Wutdemo bis zur
offenen Rebellion gekommen sein. Wilde Streiks und spontane Proteste
scheinen an der Tagesordnung zu sein. Gewalttätige Angriffe auf
Behördenvertreter und sogar auf Polizeistationen häufen sich. Terror
als Ausdruck der Hilflosigkeit und Verzweiflung findet statt, ohne
dass davon Notiz genommen wird. Bombenanschläge sind auch in
westlichen Medien meist nur eine Randnotiz.

In China sieht das Volk kaum noch Wege, sich gegenüber der Justiz
und der verknöcherten Kommunistischen Partei (KP) Gehör zu
verschaffen. Ähnlich wie in der DDR gibt es zwar ein lebhaftes
Eingabewesen, das aber genau wie einst in Ostdeutschland lediglich
Blitzableiterdienste leistet. Protest im Internet ist ebenfalls
zwecklos, weil Heerscharen von Zensoren kritische Einträge gleich
löschen. Zugleich müllen regimetreue Studenten gegen Geld die
Protestforen mit Regierungslobhudelei zu.

Die Probleme offen ansprechen können die wenigsten. Nur noch
anerkannte Marxisten wie der emeritierte Ökonomie-Professor an der
Uni Peking, Sheng Dewem, können ungestraft Justizwillkür und
Korruption thematisieren. Er schreibt: »Einfache Leute haben es
schwer, zu ihrem Recht zu kommen.« Das ist allerdinsg schon der
Gipfel der freien Rede.

Die Realität ist, wie gestern beim Aufstand in Wukan, weit härter.
Im Streit um Landverkäufe und korrupte Funktionäre fordern die
Betroffenen freie Wahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis so ein
Funke überspringt und Mitsprache auch auf anderer Ebene gefordert
wird.

242 Millionen Wanderarbeiter, ein riesiges Heer moderner Sklaven,
bilden eine kritische Masse. In Verbindung mit 5,8 Millionen
Hochschulabsolventen pro Jahr, von denen sehr viele auf dem
Arbeitsmarkt leer ausgehen, könnte eine brisante Protestmixtur
entstehen: Chinesischer Frühling liegt in der Luft.

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Andreas Kolesch
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