Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Christians Wulffs Appell

Ob die Preise steigen oder die Börsenkurse
fallen. Ob uns die Staatsschulden über den Kopf wachsen oder die
Stimmung unter Verbrauchern und in der Wirtschaft schwindet. Ob die
Zahl der Kirchgänger zurückgeht oder die Verbrechensrate steigt. Ob
uns die Bürokratie nervt oder wir mehr Demokratie vermissen: Schuld
ist immer Europa oder, wahlweise, der Euro. Würden heute ein paar
Euro-Skeptiker auftreten und in Deutschland eine neue Partei gründen,
sie hätte im Gegensatz zu manchen ihrer Vorgänger wohl gute Chancen,
die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen. Für die Skeptiker spricht, dass sie
wichtige Fragen stellen. Und anders als unter Helmut Kohl und Gerhard
Schröder ist ihre Kritik heute nicht mehr mit Tabus belegt. Davon
unabhängig stellt sich die Frage, ob die Dinge wirklich zurückgedreht
werden können. Christian Wulffs mahnende Lindauer Rede kam gestern
zur rechten Zeit. Um die Herausforderungen der Zukunft zu verstehen,
richtet der Bundespräsident den Blick zurück. Und das ist gut. Die
Frage, was wäre, wenn, schützt davor, blind in die Zukunft zu
stolpern. Was wäre zum Beispiel, wenn Deutschland wieder die D-Mark
einführen würde? Wenn sie so stark würde, wie alle Euro-Gegner es
erhoffen? Sehr wahrscheinlich würde der Ifo-Index, der das Vertrauen
der Unternehmer spiegelt und trotz des Rückgangs gestern derzeit auf
einem hohen Stand verharrt, rasant in den Keller fallen. Es ist
absehbar, dass eine starke Währung deutsche Exporte so verteuern
würde, dass sie kaum noch im Ausland abgesetzt werden könnten. Ein
Blick in die Schweiz, wo der Franken so hart ist, dass sich nicht nur
die Industrie, sondern auch der Einzelhandel die Zähne ausbeißen: Wer
kann, tauscht seine Franken in Euros und kauft längst jenseits der
Grenzen ein. Was wäre, wenn: Die Frage stellt sich aber nicht nur aus
wirtschaftlicher Sicht. Wulff hat gestern auch darauf hingewiesen:
Wenn der Euro verschwindet, wäre nichts mehr selbstverständlich,
woran wir uns viel zu früh gewöhnt haben. An die offenen Grenzen zum
Beispiel. An die Möglichkeit des Unternehmers, seine Waren und
Dienstleistungen auch in anderen Mitgliedsstaaten anbieten zu können.
An die Möglichkeit des Verbrauchers, Waren und Dienstleistungen auch
jenseits der Grenzen einzukaufen. Wohlstand, Freiheit,
Rechtssicherheit auch jenseits der Landesgrenzen – nichts wäre mehr
selbstverständlich, wenn. . . Eigentlich ist allen klar: EU und Euro
müssen sich ändern, um zu bleiben. Wulff fordert die Politiker auf,
die Sache in die Hand zu nehmen. Meist reagieren die Regierenden. Sie
müssen agieren, die Dinge in die Hand nehmen. Der Bundespräsident hat
recht. Das Frustrierende ist, die Änderungen sind vermutlich nur über
viele kleine Schritte zu vollziehen. Den meisten wäre wohl ein Gipfel
lieber, der Maastricht und Lissabon mit einem einzigen Paukenschlag
ersetzt. Doch in einer parlamentarischen Demokratie mahlen die Mühlen
eben etwas holprig und langsam. Was, wenn es anders wäre?

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