Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Libyen

Mit der Einnahme von Tripolis ist in Libyen
militärisch viel erreicht, aber politisch noch nichts gewonnen.
Natürlich haben die Rebellen allen Grund, die Befreiung ihres Landes
euphorisch zu feiern. Der verhasste Gaddafi-Clan ist nach 42 Jahren
des Plündern, Folterns und Mordens gezwungen, seine Zelte
abzubrechen. Der Revolutionsführer selbst kann die Revolte im eigenen
Land nicht führen, sondern muss flüchten und versucht, sich aller
Heldenrhetorik zuwider wegzustehlen. Und jetzt? Eine Wirtschaft vor
dem Kollaps, das Rebellenlager gespalten, Stammesrivalitäten und das
Fehlen einer Mittelschicht stellen das neue Libyen vor riesige
Probleme. Von der Teilung bis zur Anarchie – vieles könnte sich in
den kommenden Wochen auftun, nur nicht ein stringenter Weg zu
demokratischen Verhältnissen. Immerhin ist sich der Nationale
Übergangsrat dieser Probleme bewusst. Er wird von der
Libyen-Kontakt-Gruppe seit Monaten auf all das hingewiesen, was im
Irak falsch gelaufen ist. Barack Obama erwähnte in seiner Rede am
Sonntag die Formel »transistion to democracy«. Hinter diesen Worten
steht ein abgestuftes Programm, das die Möglichkeiten für Gaddafis
Erben aus US-Sicht aufzeigt. Mehr Planung ist nicht. Die
omnipräsenten Revolutionskomitees haben in 42 Jahren jede Art
losgelöster Entwicklung unterdrückt und ausgemerzt. Ähnlich wie im
Irak 2003 und aktuell in Syrien gibt es keine Persönlichkeit, hinter
der sich die wenigen und höchst unterschiedlichen Oppositionellen
sammeln könnten. Die einzigen straff organisierten nichtstaatlichen
Kräfte mit klaren Zielvorstellungen sind die Muslimbrüder. Gaddafis
Macht beruhte unter anderem auf der unterschiedlichen Bevorzugung
beziehungsweise Benachteiligung der vielen Stämme im Lande. Deren
Clanchefs werden jetzt das ausleben, was sie – aber nicht wir – unter
Befreiung verstehen. Das kann mordsgefährlich werden, andererseits
aber auch, wie bereits erfolgt, den Berbern etwa ihre alte Sprache –
das Tamazight – zurückgeben. Ganz praktisch muss – wer auch immer –
einen Weg finden, aus der alten Gaddafi-Polizei schnell eine neue
ordnende Hand zu schaffen. Nur so lassen sich Raubzüge von Plünderern
und Rächern vermeiden, wie sie Kabul und Bagdad nach dem Fall ihrer
Regime 2001 und 2003 durchleiden mussten. Libyen ist reich. Niemand
weiß zur Stunde, wie der Öl-Schatz zum Wohle das ganzen Volkes
weitergegeben werden kann. Mehr noch: Libyen ist ein Schlüsselland.
Hier gibt es hunderttausende Jobs zur Stabilisierung der
Nachbarländer. Und: Die Große Syrte ist das Einfallstor für
Armutsflüchtlinge, Drogen und Islamisten nach Europa. Es gibt
reichlich Gründe, auch von Deutschland aus Einfluss zu nehmen – bevor
China und/oder die Golf-Staaten mit Geld und neuer Unfreiheit nach
Nordafrika greifen.

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