Leiser kann man nicht antworten. Angela Merkels
Replik auf die harsche Kritik ihres Vorvorgängers Helmut Kohl mag
alles sein, eine Gegenattacke ist sie nicht. Mit der Formulierung
»Jede Zeit hat ihre spezifischen Herausforderungen« liefert die
Kanzlerin eine Antwort aus dem Lehrbuch für Politikerphrasen. Was
hier zu lesen steht, ist immer richtig, aber meistens auch
nichtssagend. Dabei darf man sicher sein, dass sich Angela Merkel
über Helmut Kohls Einlassungen nicht gefreut hat. Schließlich hat die
Kanzlerin mehr als genug Probleme. Des Altkanzlers Analyse kommt für
sie zur Unzeit. Zudem gebe es mit Blick auf Kohls Europastrategie,
die ja ganz wesentlich auch darin bestand, Fortschritte im
Einigungsprozess aus der deutschen Staatskasse zu bezahlen, durchaus
Grund zur Gegenrede. Warum also so vorsichtig, Frau Merkel? Sicher
dürften Höflichkeit und der Respekt vor der politischen
Lebensleistung ihres einstigen Ziehvaters eine Rolle spielen, allen
Meinungsverschiedenheiten in Gegenwart und Vergangenheit zum Trotz.
Auch ist da das nüchterne Kalkül der Kanzlerin, dass eine
Retourkutsche angesichts der medialen Ausbreitung und des folgenden
Stellungskampfes mit den immer noch zahlreichen Kohl-Anhängern in der
Union ihr nur schaden würde. Doch das ist nicht alles. Angela Merkel
weiß nur zu genau, dass Helmut Kohls Analyse nicht nur im Grundsatz
treffend ist, sondern noch dazu erstaunlich präzise ausfällt. Zwar
geht nicht alles davon auf ihr Konto, auch Rot-Grün bekommt ja von
Kohl mit Blick auf die Verletzung der Stabilitätskriterien und der
Griechenland-Aufnahme in die Euro-Zone kräftig die Leviten gelesen.
Das aber nützt Merkel nichts, denn der Vorwurf »kein Kompass, kein
Kurs« zielt immer auf den, der das Schiff steuert. Und dieser Vorwurf
zielt weit über ihre Europa-Politik hinaus. Er passt auch auf die
Positionierung der schwarz-gelben Koalition in der Libyen-Frage und
die innenpolitischen Volten bei Wehrpflicht und Atompolitik. Zu
lange hat Angela Merkel nicht verstanden, dass sie zu viele nicht
mehr verstehen – in der Partei, im Parlament und auf der Straße. Die
Kanzlerin der Bundesrepublik aber darf sich nicht zur obersten
Sachbearbeiterin des Landes degradieren. Sie muss Wegweiserin sein.
In diesem Sinne sind des Altkanzlers Worte ein Alarmzeichen. Angela
Merkel stilles Eingeständnis von gestern könnte ein erstes Zeichen
sein, dass sie die Botschaft verstanden hat. Reichen aber tut das
nicht. Nach sechs Jahren im Amt steht Angela Merkel vor der
schwersten Prüfung ihrer Kanzlerschaft. Sie muss jetzt voll ins
Risiko gehen. Sie muss beweisen, dass an ihr Europa nicht scheitern
wird, selbst wenn es sie selbst das Amt kosten sollte. Angela Merkel
hat lange keine Projekt gehabt und wohl auch keines gesucht. Nun aber
hat sie eines bekommen. Die Frage ist, ob und wie sie es annimmt
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